Delirium tremens

Eine neue Anthologie versucht dem Sprachkünstler und Zeichner Heino Jaeger zum gerechten Ruhm zu verhelfen

„Ich halte ihn für den erbarmungslosesten Ohrenzeugen unserer Allerweltsgespräche“, schwärmte der Kabarettist Hans Dieter Husch 1969. Man hatte ihm Tonbänder mit dessen halbimprovisierten, zusammenphantasierten, aber zugleich eben auch der Wirklichkeit präzise abgelauschten Stehgreifgeschichten zugespielt, und Husch vermittelte den Kontakt zum WDR, der nicht lange fackelte und von nun an Jaegers komische Botschaft flaschenpostartig in den Äther entließ.

Heino Jaeger besaß das absolute Gehör für das gesprochene Wort. Dialekte,Sprachfehler, verbale Marotten, artikulatorische Eigenheiten, die der Situation geschuldeten Zauderpausen – Jaeger konnte das alles mimetisch exakt nachbilden bzw. aus einer wildwuchernden Lautphantasie heraus generieren. Diese Virtuosität war quasi naturgegeben, trotzdem hat er obsessiv seine Fähigkeiten verfeinert, wie Jaegers bester Freund, Förderer und späterer „amtlich bestallter Pfleger“ Joska Pintschovius betont. Jaeger sammelte und archivierte Sprechsituationen, indem er das zufallig Aufgeschnappte sofort durchprobierte, bis er den Zungenschlag, den besonderen Tonfall adäquat reproduzieren, ihn kreativ weiterspinnen konnte.

Pintschovius‘ als biographische Quelle unschätzbare Erinnerungen leiten eine gerade erschienene voluminöse Heino-Jaeger-Anthologie ein („Man glaubt es nicht“, Kein & Aber), die neben satirischen Kolumnen, Dramoletten, Stehgreifgeschichten und einer Auswahl seines nicht minder bedeutenden graphischen Werks auch ein ziemlich gewieftes, Jaegers Größe taxierendes und angemessen furios formuliertes Nachwort von Christian Meurer enthält. Meurer gibt darin gern zu, daß ein Buch im Grunde der falsche Aggregatzustand jedenfalls des literarischen Werks ist, daß es „auf Papier, ohne die Unmittelbarkeit von Jaegers Verkörperung, an beträchtlichem Substanzverlust“ leidet. Man muß das schon hören — und kann es tun auf den ebenfalls bei Kein 6? Aber erschienenen CDs „Lebensberatungspraxis Dr. Jaeger“ und, Alkoholprobleme in Dänemark“ -, wie diese einfach nur so monologisierenden oder von einem Radioreporter bzw. jenen legendären Lebensberater Dr. Jaeger befragten Schlafwandler und Deliranten in tapfer-ohnmächtiger Verzweiflung um Ausdruck und Sprache ringen und vor allem einen Sinn. Je mehr sie sich in ihren eigenen Wortknäulen verstricken, desto betörender wird ihre Rede, desto weiter wird sie aus der logischen Umlaufbahn geworfen, auf zu neuen semantischen Galaxien, zu einem eigenen Lart pour Fan-Universum. Dabei sind Jaegers Wiedergänger ja eigentlich angetreten, um als Spezialisten ganz weltlich von ihrer Profession zu berichten, ob als Textil- oder Keksfabrikanten, als politische Kommentatoren, Botaniker, Zeitzeugen etc. Seine Sujets holt er sich nämlich in erster Linie bei den Schul-, Kultur- und Bildungsprogrammen — und noch seine Darbietungsformen, das Interview, die Reportage, den Kommentar, bezieht er daher. Und es ist der Kontrast aus dieser besonderen Kommunikationssituation, in der abgewogen, sachgemäß, mit dem entsprechenden Fachjargon nur die Fakten verhandelt werden, und einem dabei wie zufällig aufblitzenden, durch Wortverdrehungen, falschen Fremdwortgebrauch und Neologismen angetriebenen Irr-und Aberwitz, der einen großen Teil des komischen Mehrwerts dieser Piecen ausmacht. Überdies hat Jaeger ein untrügliches Sensorium für die Ökonomie der Komik. Er verrät die Authentizität der Situation nicht, indem er die Pointen herauskitzelt, sondern beglaubigt immer weiter, mit allen Mitteln seiner Schauspielkunst, die Alltäglichkeit und die Echtheit des Gesprochenen – der Witz muß schon für sich selber sorgen. Das hat bisweilen zu Mißverständnissen geführt, wenn ein auf Rambazamba eingestelltes, lobotomiertes Stimmungspublikum es einfach nicht abrallen wollte, und Jaeger, dieser Bühnensouverän, ihnen die Minuten vorzählte, die es noch auszuhalten habe.

Mitte der 70er Jahre erlebte Jaeger den Höhepunkt seines Ruhms. Neben dem WDR produzierte nun auch der saarländische Rundfunk regelmäßig Hörstücke mit ihm. Er tritt im Fernsehen auf, in Hamburger-Szene-Lokalen, ausgerechnet Knut Kiesewetter produziert eine weitere Platte, die „Meisterstücke“, später noch eine mit „Dr. Jaeger“-Beratungsgesprächen. und man hofiert ihn in der Hamburger Halbwelt-Boheme. Er zieht mit dem „Prinz von Homburg“ um die Häuser, lernt Hubert Fichte kennen — und der von Fichte porträtierte Lude „Wolli Indienfahrer“ besorgt ihm ein Mädchen, als er Jaegers erotische Verdruckstheit bemerkt. „Jaeger war damals so eine Art Geheimtip bei vielen“, sagt. Christian Meurer im Gespräch, „und ich hatte immer den Eindruck, als wollten etliche, daß das auch so bleibt. Aber subkutan hat er schon gewirkt auf die Kabarett-Szene und auf diese ganze Nonsens-Welt. Bei Husch, auch bei Insterburg & Co. und Karl Dali fand man plötzlich Stücke, die ganz eindeutig bei ihm abgeklatscht waren.“

Dann begann er immer exzessiver zu saufen, vielleicht um die vom Vater geerbten schweren Depressionen zu kalmieren. Es folgten die unappetitlichen Aussetzer und Exaltationen – die abfallende Kurve des pathologischen Alkoholismus. Und schließlich der totale psychische Zusammenbruch, von dem er sich nie mehr so richtig erholen sollte. „Einer seiner Therapeuten erzählte mir“, so Meurer, „man habe bei ihm Schizophrenie oder doch eine Krankheit aus dem schizoiden Bereich diagnostiziert. Und er selbst hat mir erzählt, er sei in die Psychiatrie gekommen, weil er tatsächliche Stimmen gehört habe, was ja bei ihm eine besondere, tragische Ironie hat. Einer, der immerzu Stimmen nachgemacht hat, wird schließlich von ihnen heimgesucht. Der Mann war auch deshalb in gewisser Weise tragisch, weil er immer wieder Versuche gemacht hat, mit dem Malen wieder anzufangen. Er hat gezeichnet, getuscht und für eine Ausstellung auch einen Zyklus Radierungen gemacht, und man merkt allen diesen Versuchen an, er hat die Kraft einfach nicht mehr gehabt. Er hat gewußt, daß er diese Höhe einmal hatte, und er kommt da nicht mehr hin, liefert nur noch einen fünft- bis sechstklassigen Abklatsch seiner selbst ab.“

Die letzten 15 Jahre seines Lebens verbringt Heino Jaeger unter psychiatrischer Aufsicht, wird in dieser Zeit von der Öffentlichkeit und leider auch von fast allen alten Freunden gründlich vergessen. 1997 stirbt er an den Folgen eines Schlaganfalls. Vor allem Eckhard Henscheid, Frank Schulz und eben Christian Meurer haben immer wieder auf die „künstlerisch einigermaßen vorbildlose“ Potenz Jaegers hingewiesen und dafür gesorgt, daß er in Wort, Bild und Ton zumindest wieder lieferbar ist. Aber das ist ja alles „noch viel zu wenig“ und „längst nicht das letzte Wort“, hofft Meurer. Er denkt an „mindestens eine 5-CD-Box mit einem Querschnitt seiner Arbeit“, beim Rundfunk seien ja noch so einige ungeahnte Schätze zu bergen. „Man glaubt es nicht.“

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