Der Versuch, dem Genie Arno Schmidt mittels CD-ROM multimedial habhaft zu werden, geriet zu Zettels Alptraum

Potz Bits & Bytes! Wenn das der „große Arno“ erlebt hätte, der in seinem letzten, Fragment gebliebenen Roman Julia, oder die Gemälde“ den ziegelsteingroßen Commodore SR1540 fast wie einen antiken Helden präsentiert hat, bloß weil das „Computerlein“ geeignet schien, den Logarithmentafeln von Hülsse mindestens 10 000 Fehler nachzuweisen.

Tatsächlich ist die vollmundige Verlagsankündigung der „Multimedia CD-ROM Arno Schmidt“ als „erster literaturwissenschaftlichen Multimedia-Anwendung überhaupt“ geeignet, vor Erwartung aus dem Häuschen zu geraten: 600 MB Daten: 600 Abbildungen (Fotos, Grafiken, Gemälde), 130 Textdokumente zu Leben, Werk und Wirkung (Rezensionen, Parodien, Satiren), 22 Ton-Einspielungen, zwei Videosequenzen und die aktuelle Bibliographie mit 7 000 Einträgen – das alles auf einem Silberscheibchen!

Nach der Installation ertönt zum Willkommen ein Ausschnitt einer Simultanlesung aus „Zettels Traum“. Anschließend zeigt der Monitor das vom CD-ROM-Cover vertraute Inhaltsverzeichnis, dessen Farbdreieckchen als Leitsystem durch die acht Menüpunkte dienen. Der Vita genannte Abschnitt bietet einen knappen biographischen Abriß, Bilder und Fotografien wichtiger Stationen von Schmidts Lebensweg sowie Zitate aus seinem Werk. Daneben stehen Ausschnitte von Interviews mit dem Schmidt-Experten Jörg Drews, Schmidts Künstlerfreund Eberhard Schlotter sowie Schmidts Verleger und Lektor Ernst Krawehl auf Abruf bereit Obwohl die Tonbeispiele wesentlich länger als 20 Minuten dauern und statt zwei Videosequenzen, deren drei vorhanden sind, wird vielen die Freude durch ein Sakrileg vergällt Enthält die CD-ROM doch mit dem „Kaff-Interview“ eine Videosequenz, die für viele Schmidt-Fans allein die CD-ROM gerechtfertigt hätte. Allerdings wurde das Kleinod, das 41/2 Minuten dauert, auf 30 Sekunden verkürzt, obwohl diese Aufzeichnung ja die einzige bekannte Filmaufnahme Arno Schmidts ist: Sie zeigt ihn beim Interview und wie er für das Filmteam promeniert, gewährt einen Einblick in sein Arbeitszimmer und seine Bibliothek.

Die CD-ROM enthält leider nur den Gesprächsteil. Als historische Aufnahme vermittelt das Interview gemeinsam mit der Kostprobe, eines Mitschnittes auf dem Schmidt aus seiner Erzählung „Leviathan“ vorliest, einen lebendigen Eindruck des Autors. In den beiden anderen Videosequenzen berichtet Eberhard Schlotter sehr bewegt von Eigenarten und Schrullen seines Freundes. Die Werkbiographie informiert angeblich „ausführlich“ über die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Schmidts Gesamtwerk. Tatsächlich enthält dieser Abschnitt wenig mehr als die durch bibliographische Angaben ergänzten Abbildungen der Buchausgaben, einige Rezensionen und akustische Leseproben. Bei diesen wurde bis auf die oben erwähnte Ausnahme die Gelegenheit versäumt, Schmidts eigene Lesungen einzuspielen, obwohl seine Tonaufnahmen besonders hörenswert gewesen wären. Es ist schade, daß die 51/2 Stunden dauernde CD-Edition „Arno Schmidt liest“ (1992) nicht ausgiebig(er) genützt wurde. Der „Bildende Kunst“ benannte Menüpunkt präsentiert rund 150 Werke von ausgesuchten Künstlern, welche von Arno Schmidt sehr unterschiedlich inspiriert wurden.

Die in „Portraits“, „Arbeitsplatz“, „Haus“, „Landschaft“ gegliederte Fotogalerie zeigt eine kleine Fotoauswahl aus den Bargfelder Jahren. Da die Fotos meist nur ein Segment der Bildschirmfläche beanspruchen, ist es schleierhaft, weshalb die dazugehörigen Angaben nicht automatisch auf dem freien Bereich rund um das Bild erscheinen, sondern eigens angeklickt werden müssen. Absicht der „Theatersektion“ ist es, Bühnenbearbeitungen von Schmidts Texten zu dokumentieren und »Einblicke in eine weitgehend unbekannte Form der Rezeption Schmidts“ zu gewähren. Dabei werden nur zwei Theatergruppen erwähnt, die sich Schmidt dramatisch genähert haben: das Wiener „Theater im Echoraum“ und das „Kölner Ensemble“. Rätselhaft, wieso von den zahlreichen, in der Bibliographie verbuchten Dramatisierungen und Lesungen ausgerechnet obige ausgewählt wurden. Ein Indiz, daß diese CD-ROM die Möglichkeiten des Mediums nicht ausreizt, liefert der Menüpunkt, der mit einer Lesung aus „Abend mit Goldrand“ zwei akustische Beispiele enthält, obwohl die begleitende Kritik extra Mimik und Gestik des Vortragenden lobt, weshalb Videosequenzen passender gewesen wären. Die Abteilung „Parodie/Satire“ bietet „unterhaltsame Beispiele eines humorvoll-respektlosen Umgangs mit Arno Schmidt und dem Arno-Schmidt-Kult“. Besonders vergnüglich ist die Anpreisung einer „von Jan Philipp Reemtsma und Hans Wollschläger aufgeblasenen Arno-Schmidt-Gummipuppe“ durch die deutsche Satirezeitschrift „Titanic“.

Amüsant auch Peter Köhlers Ankündigung des „ersten Bandes der ersten textkritischen Gesamtausgabe von Arno Schmidts Einkaufszetteln 1946 -1951“ sowie Peter Knorrs „10 Thesen zu Arno Schmidt“. Naiv ist die Behauptung, daß die „an Vollständigkeit nicht zu überbietende Bibliographie“ „zuverlässig alles“ verzeichne, „was von und über Arno Schmidt jemals publiziert worden ist“. Dies provoziert Stichproben, die Lücken und Fehler bloßlegen und den Eindruck verfestigen, daß der illusorische Anspruch auf Vollständigkeit dazu fuhrt, statt längerer Rezensionen großer Zeitungen Leserbriefchen zu verzeichnen. Diverse bibliographische Belege sind mitunter völlig ungenau, unrichtig, unbrauchbar. Radiosendungen werden unter der Rubrik „Audiovisuelle Dokumente“ verzeichnet, wo sich auch folgender Eintrag findet: „04.10. ’89 Seelandschaft mit Pocahontas (Sprecher: Bernd Rauschenbach) ORF 1 – Musicbox -, 9.15-10.00,33’15“ (Aufoahme vom 03.10. ’89 im Theater Narrnkastl).“ Die Chance, anhand dieser wirren Angaben Kopie oder Abschrift des Beitrages zu erhalten, ist gering.

Dennoch ist Karl-Heinz Müthers Bibliographie durch die umfangreichen Vorarbeiten früherer Schmidt-Bibliographen, die Unterstützung vieler Schmidt-Fans sowie den Fleiß des Bibliographen das umfangreichste und beste Verzeichnis aller Arbeiten von und über Arno Schmidt Ein großer Vorteil der digitalen Bibliographie ist die Möglichkeit der raschen Suche, dank der sich mühelos auflisten läßt, was innerhalb eines Jahres zu einem bestimmten Thema veröffentlicht wurde. Doch leider fehlt die Option, wodurch ein großer Vorzug der digitalen Bibliographie verschenkt wird.

Benutzerfeindlich ist auch die optische Gestaltung der digitalen Bibliographie, deren Arbeitsmaske ein Fensterchen ist, dessen Größe sich nicht ändern läßt, so daß bei längeren Einträgen oft nur ein Teil der gewünschten Information sichtbar ist. Während die Anforderungen an die Hardware gering sind, liegt der Preis der Schmidt-CD-ROM im Vergleich mit ausgereifteren Multimediaprodukten relativ hoch. Mißt man sie gar an dem Dylan-Multimediaporträt „Highway 61 interactive“, wird evident, daß sie weder „State of the art“ noch „State of the artist“ ist Generell werden die spezifischen Stärken des neuen Mediums nicht genutzt. Natürlich sollte Schmidts Fernsehauftritt vollständig vorliegen und etliche weitere Videosequenzen (Aufführungen, Forschen Kollegen, Zeitzeugen…) abrufbar sein, da Video Multimedia par excellence ist Alles in allem ist das Konzept der CD-ROM nicht schlüssig, so daß sie hinter jenen Erwartungen zurückbleibt, die sie weckt.

Der stolze Verlagshinweis, daß Datensätze aus der Bibliographie ausgedruckt werden können, verschweigt, daß der Ausdruck aller anderen Text- oder Bilddokumente weder direkt noch über die Zwischenablage möglich ist Schmidt-Fans, die sich wegen dieser CD-ROM einen Multimedia-Computer anschaffen, werden den digitalen Kreuzweg mit langen Gesichtern gehen und vermutlich keinen Eindruck von einem der witzigsten und phantasiereichsten deutschen Sprachkünstler erhalten.

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