Die 50 Besten deutschen Alben

Krautrock oder Hamburger Schule, Deutsch-Rock oder NDW? Zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung kürt eine prominente Jury die definitive Essenz des deutschen Popschaffens.

Musik gilt als universelle Sprache, warum also sich auf ein Land beschränken? Weil vieles, was in diesem Land produziert wurde, traditionell nicht auftaucht in den diversen Bestenlisten. Teilweise zu Unrecht, wie wir finden. So entstand die Idee, mit einer breit aufgestellten Jury von Leuten aus allen Bereichen zu ermitteln, was bleibt aus vier Dekaden deutscher Popkultur. Denn eine Pop-Liste ist es überwiegend geworden, trotz vereinzelter Nennungen alter Schlager und Liedermacher. Einige wollten oder konnten nicht teilnehmen, doch am Ende kann sich die Jury absolut sehen lassen.

Die Ergebnisse zeigen: Es gibt einen großen popmusikalischen Grundkonsens in diesem Land. So werden die Errungenschaften der experimentellen Krautrock-Elektronik und der Hamburger Schule wie immer am höchsten bewertet. Nur ein Nischendasein führt dagegen der Deutschrock: kein Westernhagen, keine Platte von Bap etc. pp. Wenig Nominierungen gab es auch im Bereich des sogenanten Ost-Rock. Feeling B, Silly und andere wurden selten genannt, trotz der Teilnahme mehrer ostsozialisierter Experten.

Doch lesen Sie selbst, wie sich unsere Jury entschieden hat – bei der wir uns ausdrücklich bedanken möchten.

#50

Blumfeld

Testament der Angst

2001 Eastwest/Warner

Teile der Hornbrillen-Fraktion, die alles durchdenken und diskutieren musste, waren abgewandert, Jochen Distelmeyer (der im „Graue Wolken“-Video den Lehrer spielt) machte weiter, mit klarsichtigem Depri-Folk („Der Wind“), dem Blues zum Untergang („Anders als glücklich“) und einem Abendlied von Hanns Dieter Hüsch. Es endet tödlich? So isses!

#49

Die Ärzte

Die Bestie in Menschengestalt

1993 Metronome/Universal

„Die beste Band der Welt sucht eine Plattenfirma“, so lautete 1993 der unbescheidene Text einer ganzseitigen Anzeige in der Zeitschrift „Musikmarkt“. Das Comeback der bisherigen Funpunk-Band geriet nach fünf Jahren Abstinenz zum Triumphmarsch: Mit „Schrei nach Liebe“, dem energischen Ausrufezeichen der Ärzte gegen Rechtsextremismus („Arschloch!“), landete die Band ihren größten Hit, mit diesem Album reiften sie endgültig zur Institution.

#48

Einstürzende Neubauten

Kollaps

1981 ZickZack

Der Legende nach lärmten Blixa Bargeld, N.U. Unruh und FM Einheit damals noch unter einer Autobahnbrücke. Ihr Equipment stahlen die Musiker im Baumarkt und auf Schrottplätzen zusammen, einer hatte immerhin eine alte Gitarre. So gelang nicht weniger als die Geburt des Industrial, destilliert aus Untergangsszenarien und tiefschwarzen Studien vom Zerfall. Die Blaupause für Nine Inch Nails und zahlreiche andere.

#47

Heinz Rudolf Kunze

Reine Nervensache

1981 WEA

Kunzes Debüt war eine kleine Sensation. Zu Beginn der Neuen Deutschen Welle orientierte er sich an Franz Josef Degenhardt und Randy Newman, seine „Bestandsaufnahme“ der Gegenwart fiel niederschmetternd aus, doch setzte er der grausamen Sozialkritik auch Temperamentvolles wie „Wir leben alle im Erdgeschoss“ und die scheinbar leichte „Romanze“ entgegen. „Inhomogen“ nennt Kunze selbst diese Sammlung von Songs, doch gerade das ist ja das Reizvolle. Und manche seiner Reime werden ewig bleiben: „Zum Beispiel, dass man beinah nichts/ Bekommt, wenn man nicht zahlt/ Dass niemand jemand irgendetwas/ Glaubt, wenn man nicht prahlt/ Auch wenn der pünktlich Gereifte/ Mich laut dafür verhöhnt/ Noch hab‘ ich mich an nichts gewöhnt.“

#46

Udo Lindenberg

Ball Pompös

1974 Telefunken

Auf seinem dritten deutschsprachigen Album formulierte Udo Lindenberg endgültig aus, was er auf „Daumen im Wind“ und „Andrea Doria“ bereits angedeutet hatte – und später immer wieder variierte. Nie wieder rührte er so zu Tränen wie in „Bitte keine Love-Story“, selten sprach er uns so aus dem Herzen wie in „Cowboy-Rocker“. „Ball Pompös“ lebt von einem einmaligen Timing, einer fulminanten Beobachtungsgabe und – ja, auch das! – einer überbordenden Musikalität. Ein deutscher Klassiker.

#45

Fischmob

Männer können seine Gefühle nicht zeigen

1995 Plattenmeister

50.000 verkaufte Alben – und das ohne Marketing-Strategie! Die Flensburg-Hamburg-Connection um DJ Koze und den Schrecklichen Sven schaffte 1995 auf ihrem ungehobelten Debüt nicht nur den Spagat zwischen Proll-Albernheiten und politischem Anspruch, sondern auch zwischen HipHop/Crossover und Ambient. Wegweisend!

#44

Tocotronic

Kapitulation

2007 Universal

Das ehrliche Arbeiten, das Mühen, das Ächzen und der heilige Fleiß: Alles nichts wert gegen den richtigen Zauberspruch! Aus Faulheit, Melville, Agamben, Sonic Youth und Sinnestäuschungen enstand ein sanftes Manifest der Missbilligung, das auch jene Hörer mit der Band versöhnte, die Dirk von Lowtzow schon wehmütig in den Märchenwald verabschiedet hatten.

#43

Abwärts

AmokKoma

1980 ZickZack

Abwärts spielten die wütende Dringlichkeit des frühen Punk-Rock gegen das zackig-kühle Gitarrensägen des New Wave aus – also quasi Amok(-lauf) vs. (Gefühls-)Koma. Frank Z. und der spätere Einstürzende-Neubauten-Schlagzeuger FM Einheit zeigten in diesem Spannungsfeld, was alles möglich sein kann, wenn man nur die Bierseeligkeit des deutschen Punk-Rock hinter sich lässt. Post-Punk made in Germany sozusagen – und das kaum später als die vergleichbaren Strömungen in England und den USA.

#42

Franz Josef Degenhardt

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

1965 Polydor

Ein Sittengemälde der Bundesrepublik Wirschaftswunderdeutschland, Mitte der 60er-Jahre, dessen Titel längst ein geflügeltes Wort geworden ist. Der Bänkelsänger mit der schneidenden Stimme und der kräftig gezupften Gitarre rückt drei Jahre vor der Studentenbewegung der Spießigkeit und den nur teilweise versteckten Nazismen mit Spott, Witz und surrealer Poesie zu Leibe. Singt gegen Atomkrieg, Klassengesellschaft und Vietnam.

Bis heute ist Degenhardt unser sprachmächtigster Dichter. Er fand (fast) immer die richtigen Bilder, beeinflusste die nachfolgenden Generationen von Hannes Wader bis Gisbert zu Knyphausen. Und seine Lieder sagen mehr über deutsche Nachkriegsgeschichte und Gegenwart als die gesammelten Werke der Gruppe 47. Ein historisches Dokument und zugleich ein Werk, das heute immer noch Geltung besitzt. Auf dieser Platte sind 13 Lieder, die auch heute noch an den Halsspeck gehen.

#41

Fischmob

Power

1998 Plattenmeister

So experimentier-wütig und lustig wie bei den Hamburgern von Fischmob war deutscher HipHop nur selten. DJ Koze und seine Freunde drehten mit so illustren Gästen wie „Magnum“-Synchronsprecher Norbert Langer, J Mascis sowie Dendemann, Smudo und einigen anderen auf und durch. Songs für die Ewigkeit auf „Power“ sind unter anderem: das schrammelige „Johnny“ sowie das eklige „Dreckmarketing v. 1.7“ und natürlich der trippige Love-Song „Du (äh, du)“ mit Gastbeitrag von „Herzblatt“-Susi. „You can buy a dream or two“? You bet!

#40

Blumfeld

Ich-Maschine

1992 ZickZack

Das Gründungsdokument des Diskurs–Pop, die Platte, die der deutschen Sprache einen neuen lyrischen Klang gab und aus uns allen wieder Dichter und Denker machte, die zeigte, dass politisch gedachter Pop sich nicht in der Parolenhaftigkeit von Ton Steine Scherben oder dem Agritprop von Fehlfarben erschöpfte. Distelmeyer dachte alles zusammen: Pop und Kulturindustrie, Linkssein und Liebe.

#39

Tocotronic

Tocotronic

2002 L’Age D’Or

Das „weiße Album“ tilgt das Indie-Rock-Gerumpel aus dem Repertoire, macht Platz für offene Pop-Architekturen, eine Poetik des Sehnens, eine Ästhetik des Vagen. „Ein Scherz im Labyrinth der Unvernunft macht uns gesund“, reimt Dirk von Lowtzow in „This Boy Is Tocotronic“ bevor sich die Band zwischen Roxy Music und Prefab Sprout häuslich einrichtet.

#38

Gisbert zu Knyphausen Gisbert zu Knyphausen

2008 PIAS

Der Mann mit dem schwurbeligen Namen hastet auf seinem ersten Album durch furiose Songs und bizarre Lyrik, die keinen Unterschied kennt zwischen Poesie, Alltagssprache und Witzelei. Doch sind Knyphausens Songs weder zerquält noch bedeutungsschwanger: Einsamkeit, Entfremdung, Beziehungsknatsch und Weltuntergangsstimmung fließen bei ihm zu einer erhebenden Trübseligkeit zusammen – und der Songschreiber weiß durchaus um sein Pathos der Gefühligkeit. „Erwischt“, „Seltsam durch die Nacht“, „Gute Nachrichten“, „Der Blick in deinen Augen“: Gisbert zu Kynphausen ergänzt das Liebeslied um merkwürdige Abschweifungen zu Nebenschauplätzen und putzige Aphorismen, wirft auch mal ein „scheißegal“ ein. Der damals 28-jährige Musiker aus einer hessischen Adelsfamilie (die Wein keltert) fand bereits übers Netz glühende Verehrer.

#37

Ton Steine Scherben

Warum geht es mir so dreckig?

1971 David Volksmund

Im Jahr zuvor hatten Ralph Möbius (Rio Reiser) und Peter Seitz (R.P.S. Lanrue), die damals noch unter ihren bürgerlichen Namen agierten, zusammen mit Wolfgang Seidel und Kai Sichtermann Ton Steine Scherben gegründet. „Warum geht es mir so dreckig“ war dann das erste ernstzunehmende Statement der Scherben – und damit der deutschsprachigen Rockmusik. Rio Reiser hatte Antworten auf die im Titel gestellte Frage: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Ich will nicht werden was mein Alter ist“, „Mein Name ist Mensch“. Songs, ach was: Slogans für die „Genossen“ auf der Straße, die damals keine Radiostation spielte und kein Label veröffentlichen wollte – weshalb die Band selbst eines gründete. Tragik am Rande: Natürlich wären die Scherben auch ganz gerne die deutschen Rolling Stones geworden. Doch die Szene entließ sie nicht aus der politischen Verantwortung. Die musikalische Würdigung von Ton Steine Scherben setzte erst später ein.

#36

Tocotronic

K.O.O.K.

1999 L’Age D’Or

Die lange Wartezeit auf „K.O.O.K“ sah den Meisterschülern gar nicht ähnlich. Als das Raumschiff schließlich landete, waren Tocotronic perfekt frisiert und in Schwarz gewandet. Zu hören gab es schlaufenförmigen Postrock („17“), fremde Schatten und Protestsongs durch die Milchglasscheibe („Das Unglück muss zurückgeschlagen werden“). Die notorische Cordhosen-Fraktion maulte.

#35

Rio Reiser

Rio I

1986 CBS

Die Wiedergeburt des deutschen Schlagers aus dem Geist der Barrikadenträume. Und wer Ton Steine Scherben nicht kannte, hörte hier einfach den kecksten Radiorocker des Landes. Einen klugen Köter, der zu seinen neuen Hörern in der Sprache sprach, von der er wusste, dass sie sie verstehen: der Papst und McDonald’s kommen vor, Reagan und Kurt Felix, die Liebe und die Sterne am Himmel.

Und wenn Rio Reiser explizit über alte Nazis singen wollte, verpackte er das eben in ein Gleichnis: „Menschenfresser“ klingt wie eine blutige Antwort auf Grönemeyers „Männer“, ist mindestens so scharf wie frühere Schlachtlieder – wenn auch, nun ja, amtlich produziert, mit Studiomusikern à la Curt Cress. Ob Rio den Vertrag unterschrieb, um nach dem Ende der Scherben die Schulden zu zahlen, oder ob er die Band nur verließ, weil er den Solodeal schon in der Tasche wähnte, darüber streiten sich die Eingeweihten. Aber dann zeigte „Rio I.“ im Bermuda-Dreieck zwischen Schlager, NDW und Deutschrock allen den Weg. Nicht nur die vielen Coverversionen beweisen das. Und was Rio über das Geld dachte, sang er auf der Platte, mit der er es verdiente gleich selbst: „Es ist nicht schlecht, zwar nur Papier, aber’s ist echt!“

#34

Eins Zwo

Gefährliches Halbwissen

1999 YoMama

In grauer Vorzeit, als deutscher HipHop noch ohne Gratis-Koks und Vögelfantasien existierte, gab sich Daniel Ebel den Namen Dendemann und bestieg mit „Ich so, er so“ (auf der „Sport“-EP) den Wortwitz-Gipfel. Auch die LP danach war toll, mit „Danke, gut“ und dem „Mitarbeiter des Monats“: „Und bitte wer kickt mehr derbe Styles als ich? Niemand, Leute, auf keinsten.“ Ganz genau so war es.

#33

Can

Soundtracks

1970 Spoon

Natürlich waren die gewaltigeren Tracks, waren „Yoo Doo Right“, „Halleluwah“ oder „Bel Air“ auf den anderen Platten von Can zu finden. Und doch war es das seltsam schöne „Deadlock“-Stück „Tango Whiskyman“, in dem man Damo Suzuki so nahe zu kommen glaubte wie nie zuvor. Auf „She Brings The Rain“ singt Malcolm Mooney zum letzten Mal – auf Rat des Psychiaters.

#32

Flowerpornoes

… red‘ nicht von Straßen, nicht von Zügen

1994 Moll

Auf diesem Album nahm der Songwriter Tom Liwa der deutschen Sprache alle Schwere und Härte. Fast beiläufig, ja geradezu lässig wirft er seine zen-weisen Gedanken über Liebe und Tod in den lockeren „Harvest“-Scheunensound seiner Flowerpornoes. In „Liane“ verliebten sich nicht nur die Studenten. Es ist völlig unmöglich, zu entkommen …

#31

Herbert Grönemeyer

Mensch

2002 Grönland/EMI

Das war das Thema damals: Wie singt der Mensch Grönemeyer über den Tod? Er tat es überraschend direkt und nachvollziehbar, zum Beispiel mit dem Lied „Der Weg“. Insgesamt führt „Mensch“ den Modernismus fort, der sich auf „Bleibt alles anders“ angedeutet hatte, aber konsequenter und mit weniger Rockgitarre. Viele Lieder überdauern die Zeit, weil Grönemeyer souverän mit der Sprache hantiert und neugierig-unkonventionell arrangiert. Deutsche Kunstlieder fürs dritte Jahrtausend.

#30

Herbert Grönemeyer

4630 Bochum

1984 EMI

Ein 78 Wochen andauernder Aufenthalt in den Albumcharts und fünf Platin-Auszeichnungen markieren den Sieg der bürgerlichen Tugenden über die Rock’n’Roll-Rebellion. Vor allem der Titelsong mit seinem ungelenken Refrainreimen („Bochum/ Ich komm aus dir/ Bochum/ Ich häng an dir“) ist eine Hymne des Bodenständigen. Herbert Grönemeyer versammelt Slogan-Songs („Männer“), die das Wir-Gefühl feiern und den Zeitgeist treffen („Amerika“, „Alkohol“, „Fangfragen“), gefällt sogar in sentimentalen Rollenspielen („Flugzeuge im Bauch“) und als tanzender Witzbold („Mambo“). Während Alfred Kritzers Keyboards und die Gitarren von Gaggy Mrotzek und Jakob Hansonis die Songs hartnäckig antreiben, darf Charlie Marianos Saxofon immer wieder die aufgewühlte Popseligkeit mit schrägen Soli und einigen falschen Tönen stören.

#29

Die Fantastischen Vier

Lauschgift

1995 Sony

Es war der Moment, in dem die vormals bisweilen albern wirkenden Stuttgarter Mittelstands-Rapper endgültig erwachsen wurden. Thomas D entdeckte den philosophischen „Krieger“ in sich, Michi Beck wurde mit „Sie ist weg“ zum Frauenschwarm, Smudo machte sich bei „Populär“ über den eigenen Erfolg lustig, And.Ypsilon blieb der Alte. Es nahmen also alle Fanta-Vier-Musiker jene Rollen ein, die sie im Prinzip bis zum heutigen Tage inne haben. Zusammen gelang ihnen das Kunststück, auch im fortgeschrittenen Alter witzig zu bleiben, ohne jemals albern zu werden.

#28

DAF

Die Kleinen und die Bösen

1980 Mute

„Ich möchte nicht mit dir schlafen, ich möchte jetzt was essen und dann schlafen gehen“: Schöner als in diesem DAF-Song sind Sex und Fitness in der deutschen Popgeschichte später nicht mehr gegeneinander ausgespielt worden. Die Düsseldorfer Band, damals noch zu viert, wagt auf „Die Kleinen und die Bösen“ den Übergang vom freien Experiment mit Elektrobaukasten und Gitarrenkratzen zum strengen Rhythmus-Drill. Die Live-Aufnahme aus dem Electric Ballroom in London (DAF im Vorprogramm von Wire), die die zweite LP-Seite füllt, enthält den mäßig witzigen Nazi-Gag „Die lustigen Stiefel marschieren über Polen“, der Rest der Platte ist schön schmierig und mutwillig brachial.

#27

Spliff

85555

1982 CBS

Anfang der Achtziger hatten Spliff mit der „Spliff Radio Show“ sowie zwei Alben für Nina Hagen bereits Großes geleistet. „85555“ war dann der Quantensprung, Spliff wurden zur deutschen Pop-Avantgarde. Der riesig erfolgreiche Reggae-Witz „Carbonara“, das zärtliche „Heut‘ Nacht“ – Spliff beherrschten das Medium Pop mit unverschämter Perfektion.

#26

Element Of Crime

Damals hinterm Mond

1991 Polydor

„Von draußen kommt ein Zwitschern/ Kleiner Vogel, flieg/ Blaulicht und Zwielicht/ Und ein kleines bißchen Krieg.“ Nach einigen mäßig erfolgreichen englischsprachigen Alben machte Sven Regener das Licht aus, um fortan auf Deutsch zu dichten. Zur wunderbaren Poesie wurde plötzlich immerzu Rotwein getrunken, erste Geistesmenschen bejubelten Regeners „Umgang mit der deutschen Sprache“. Meisterwerk.

#25

The Notwist

Neon Golden

2002 City Slang

Vom Post-Punk hatte sich die Band schon auf dem Vorgänger „Shrink“ Richtung Jazz/Elektronik abgewandt. Auf „Neon Golden“ waren The Notwist dann bei unterkühltem Pop mit elektronischem Rückgrat angekommen. Micha Achers elegisch-körperloser Gesang, Martin Gretschmanns unterkühlte Soundschlieren und sich subtil anschleichende Melodien brachten Notwist in die deutschen Top Ten.

#24

Die Toten Hosen

Ein kleines bisschen Horrorshow

1988 Totenkopf/Virgin

Von der Düsseldorfer Opel-Gang hatte man einen Ausflug ins Theaterfach nicht unbedingt erwartet, doch „Ein kleines bisschen Horrorschau“ verband das Beste aus beiden Welten: Die von Anthony Burgess inspirierten Texte vom brutalen Kampf gegen den stum-pfen Alltag verwandelten sich in trotzige Punkrock-Hymnen wie „1000 gute Gründe“ oder das nicht totzukriegende „Hier kommt Alex“.

#23

Can

Monster Movie

1969 Spoon

Nicht nur wegen der über 20 Minuten von „Yoo Doo Right“ machten Can alles richtig auf ihrem Debüt. Nichtsänger Malcolm Mooney skandierte atemlos über die clevere Repetition „Father Cannot Yell“, in „Outside My Door“ gelang ihm sogar eine Melodie – und Can fast so etwas wie Garage. Krautrock war ja zunächst ein alles andere als schmeichelhafter Begriff gewesen, doch nach „Monster Movie“ lernten die Engländer diese seltsame Improvisationsmusik aus Deutschland lieben. Dabei ist es geblieben.

#22

Can

Ege Bamyasi

1972 Spoon

Kurz zuvor war die Can-Single „Spoon“ in dem Francis-Durbridge-Straßenfeger „Das Messer“ zum Einsatz gekommen. Die hypnotische Beklemmungsmelodie kannte man bald in den Reihenhäusern der Republik, die Krautrock-Pioniere verdienten erstmals richtig Geld. „Ege Bamyasi“ entstand danach in einem besseren Studio, was der Kreativität kaum dienlich war: Die Musiker spielten lieber Schach, als neue Songs zu schreiben. Am Ende hatten sie exakt sechs Stücke – weswegen „Spoon“ auf dem Album zweitverwertet wurde. Ein Umstand, der der glänzenden Rezeption des Albums keinen Abbruch tat.

#21

Beatsteaks

Smacksmash

2004 Epitaph/Warner

Punk-Rock war auf „Smacksmash“ nur noch eine musikalische Sprache unter vielen. Den Berlinern gelang nach jahrelanger Ochsentour eine mitreißende, überaus vitale, sehr eigene Rockmusik: „Ain’t Complaining“, „Hand In Hand“, „Hello Joe“ Songs, die ein Jahr prägten. Die Beatsteaks nahmen daraufhin Hitparaden und Festivals im Sturm, in nur sechs Jahren ist das Album zum Klassiker gereift. Zu Recht.

#20

Tocotronic

Digital ist besser

1994 L’Age D’Or

Das Debüt mit dem unschlagbaren Welpencharme. Wie jung Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank aussehen, wie sie da „auf dem Cover sitzen“, das ziemlich sicher in Heinz Karmers Tanzkaffee geknipst wurde … Und dann diese vor einer Wand aus Proberaumlärm gebrüllten Zeilen aus „Freiburg“: „Ich bin alleine und ich weiß es, und ich find‘ es sogar cool“. Auch „Drüben auf dem Hügel“ jagt einem noch heute eine Gänsehaut den Rücken hinunter.

#19

Blumfeld

Old Nobody

1999 Big Cat

Ein Mann ging seinen Weg, auch wenn ihm nicht mehr alle folgen konnten. In Gesprächen mit sogenannten Medienpartnern ließ Distelmeyer jetzt Brandy & Monica und die Münchener Freiheit fallen, die er gern mit Freunden hörte. Natürlich eine unglaubliche Platte, mit „Tausend Tränen tief“, „Ein Lied von zwei Menschen“ und dem bestürzenden, brillanten „So lebe ich“. Diskurs-Dancing, sozusagen.

#18

DAF

Alles ist gut

1981 Virgin

Sex und Gewalt sind die Themen des Duos Robert Görl und Gabi Delgado-López. Alte Ideologien bedeuten nichts mehr, hier kämpfen „Alle gegen Alle“ und tanzen einen neuen bösen Tanz genannt „Der Mussolini“. Über einem minimalistischen Fundament von Schlagzeug und Sequenzer verteilt Delgado seine Slogans wie Backpfeifen. „Der Räuber und der Prinz“ beweist die Zärtlichkeit der Wölfe.

#17

Peter Fox

Stadtaffe

2008 Downbeat/Warner

Dass Seeed eine außergewöhnlich gute Band sind, hatte man gewusst – und erlebt, wie die Berliner Clubs genauso beherrschen wie Festivals. Doch die Soloplatte von Pierre Baigorry alias Peter Fox hatte man nicht kommen sehen. Er hatte zunächst ein Album mit Cee-Lo Green geplant, der dann aber mit Gnarls Barkley berühmt wurde und deshalb ausfiel. Gut so! Baigorry mutierte zu Fox und dichtete unpeinliche Lyrik, die einem Mittdreißiger angemessen war. Das Konzept aus digitaler Weltperkussion, hemmungslosen Streichern und Fox‘ Berliner Schnauze ist unwiderstehlich.

#16

Absolute Beginner

Bambule

1998 Buback/Universal

Stuttgart hatte kommerziell vorgelegt und vielleicht war Frankfurt streetwiser. Aber Hamburg City hatte die besseren Rhymes und Beats! Allen voran die Beginner: Deren „Bambule“ war ein genreübergreifendes Zitat-Feuerwerk, auf dem die halbe Szene assistierte. „Ich bin Beginner, Mann/ Irgendwas fang ich immer an“. Und wie!

#15

Can

Tago Mago

1971 Spoon

Zurück in die Steinzeit, zurück zur Magie des Unbewussten. Die Stockhausen-Schüler Irmin Schmidt und Holger Czukay haben 1971 für dieses Album die Geschichte der abendländischen Musik vergessen. „Tago Mago“ ist kein moderner Tanz, sondern ein mystischer Ort, der allein Can gehört. Jaki Liebezeit spielt wie kein anderer Schlagzeuger und sein Rhythmus steht im Zentrum. Bass, Keyboards und Michael Karolis eigenwillige Gitarre umkreisen den Beat wie Satelliten, setzen hin und wieder schillernde Akzente. Es ist das erste Can-Album mit dem Sänger Damo Suzuki, einem genialen Dilettanten, der gerne Zeilen wie in Trance wiederholt: „One eyed soul mushroom head. I was born and I was dead“ . „Tago Mago“ klingt roh und wild genau das ist seine Stärke.

#14

Nina Hagen

Nina Hagen Band

1978 CBS

Ein Punk-Ersatz für „Brigitte“-Leserinnen muss nicht schlecht sein. Die kleine Nina von drüben, 23 und bemalt wie ein toter Zirkusclown, singt bis zum viergestrichenen Opern-C über Durcheinander-Sex, Lesben-Dates, Abtreibung und Frauenaufstand. Der Slapstick-Humor, mit dem sie die Themen angeht, macht den Unterschied: Wer diese Platte hört, will nicht diskutieren, sondern erst mal dem nächsten Macho in den Arsch treten.

#13

Kraftwerk

Computerwelt

1981 KlingKlang/EMI

Die bösen Rechner, die den Menschen in die Vereinsamung treiben, sehen heute ganz anders aus als auf dem Cover von „Computerwelt“. Der oft bemühte Spruch, die Kraftwerk-Themen seien „heute noch so aktuell wie vor 30 Jahren“, stimmt trotzdem: „Interpol und Deutsche Bank/ FBI und Scotland Yard/ Flensburg und das BKA/ Haben unsere Daten da.“

#12

Udo Lindenberg

Alles klar auf der Andrea Doria

1973 Telefunken

Nach einer – abgebrochenen – Kellner-Lehre im Breidenbacher Hof zu Düsseldorf, einem halbherzig betriebenen Musikstudium sowie einem Muckerjob auf einer Airbase in Tripolis endeten Udo Lindenbergs Lehr- und Wanderjahre als juveniler Knallkopf 1968 in Onkel Pö’s Carnegie Hall. Dem miefigen Laden am Eppendorfer Lehmweg – Geburtsort der so genannten „Szene Hamburg“ – errichtet Lindenberg mit dem Song „Andrea Doria“ ein Denkmal.

Das gleichnamige Album ändert dann auf einen Schlag alles. In Rekordzeit verkauft sich das Werk 70.000 Mal und knallt Lindenberg aus der heimeligen Eppendorfer Szene geradewegs auf die Titel von Zeitungen und Magazinen. Nicht zuletzt ist der Erfolg der ersten flächendeckenden Promotion-Kampagne eines deutschen Rock-Stars geschuldet: Von Dr.-Sommer-Beratungsstunden über Sitzungen am „Bild“-Telefon macht Lindenberg eine Zeitlang beinahe alles. Ungeachtet dessen ist „Alles klar auf der Andrea Doria“ natürlich eine Sternstunde der deutschen Rockmusik. Lindenberg gelang es tatsächlich, das spielerische, doppeldeutige Element des Rock’n’Roll ins angeblich so holprige Deutsche zu übersetzen. Mit Verlierer- und Ausreißergeschichten wie „Nichts haut einen Seemann um“ und „Er wollte nach London“. Der Humor war frisch, die Texte treffgenau, hier stimmt’s mal wirklich: zeitlos.

#11

Blumfeld

L’Etat et Moi

1994 ZickZack

„Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg“, heißt es in „Verstärker“. Ein klaustrophobischer Song, der zum Hit wurde, der es gar auf MTV in die Heavy Rotation schaffte, obwohl er mit einem Text daherkam, der keinerlei populistische Schlüsselreize aussandte, sondern sich vorwiegend um sich selbst drehte.

Plötzlich galt Rockmusik als intellektuell. Musikkritiker und Feuilletonisten, die sich in Jochen Distelmeyers Referenzhölle verliefen, wurden zu Exegeten eines bis in die Details des Albumcovers anspielungsreichen Werks, was zuweilen zu verschwurbelten Apologien des sogenannten Diskursrock führte. Der zweite Longplayer von Blumfeld blickte nach innen und nach außen, in die Ich-Maschine wie ins Räderwerk des Politischen, die untrennbar miteinander verzahnt sind. „Krautrock psychobabble“ nannte es der „New Musical Express“, der das Album sogar in seine Liste der besten Platten des Jahres aufnahm. Verkopfte Rockmusik, so sexy, gefühlvoll und tanzbar wie nie, sagen wir.

#10

Kraftwerk

Trans Europa Express

1977 Capitol/EMI

Es ist kein Zufall, dass eins der Stücke „Franz Schubert“ heißt: „Trans Europa Express“ ist das romantischste Kraftwerk-Album. Die gleichnamigen Züge waren 1977 trotz ihres aerodynamischen Aussehens bereits veraltet und die Musiker sehen auf dem Cover aus wie Schauspieler der 50er-Jahre. Es ist ein verträumter Retro-Futurismus, der dem Album eine ganz eigene Note gibt. „Europa Endlos“ und vor allem das Titelstück sind geprägt vom Klang und Rhythmus des TEE, die Landschaft fliegt vorbei und alles scheint so seltsam fern. Über „Spiegelsaal“ und „Schaufensterpuppen“ liegt eine eher statische, aber ebenfalls sonderbare Melancholie und Künstlichkeit. Als würden die Musiker von Kraftwerk aus der Zukunft zurückschauen auf sich und ihre Gegenwart.

#9

Kraftwerk

Autobahn

1974 Philips

Die A 555 zwischen Köln und Bonn taugt – anders als die Route 66 oder der Highway 61 – nicht als Topos einer On-The-Road-Romantik. Der Song „Autobahn“, der mit seinen 22 Minuten die A-Seite des vierten Kraftwerk-Albums füllt, interpretiert die ewige Besessenheit der Popmusik mit dem Unterwegssein völlig neu. Die repetitive, monotone Synthesizersinfonie, die weder Heim- noch Fernweh kennt, ist eine Ode an die Gleichförmigkeit des Fahrens, eine Hymne auf das Eintönige, Ereignislose. Das unternehmungslustige „Fun, Fun, Fun“ der Beach Boys hat sich in ein nüchternes „Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ verwandelt. „Autobahn“ ist zwar alles andere als ein Konzeptalbum, die minimalistischen Stücke auf der B-Seite sind aber eher Beiwerk auf der Platte, die Kraftwerk schon nach kurzer Zeit den internationalen Durchbruch bescheren sollte.

#8

Einstürzende Neubauten

1/2 Mensch

1985 What’s So Funny About

Am Ende von „Der Tod ist ein Dandy“, im Schwarm tieffliegender Metallplatten und atonaler Höllenlaute, kommt kieselsteinschmirgelnd Blixa Bargelds Ansage: „This was made to end all parties!“ Ein After-Hour-Stück also – wo man bei der besten Neubauten-Platte doch sowieso den Eindruck hat, dass sie nicht etwa im Irrenhaus, sondern im stockschwarzen, puderbestäubten Nachtleben des Berliner Mittachtziger-Westens spielt.

Es gibt Tanz- und Trinklieder sowie mit „Seele brennt“ ein Entzugsdrama, das beklemmender bömmelt als 50 karpatische Kirchenglocken. Aggressive Abreaktion und dichterischen Gestaltungswillen führte die bleiche Band hier zum ersten Mal so gekonnt zusammen, dass nach dieser Platte niemand mehr an ihrem Talent zweifeln konnte. Der Weg ins Abonnement-Theater war frei.

#7

Element Of Crime

Weißes Papier

1993 Polydor

Noch einmal führte Sven Regener mit fiebriger Stimme durch sein romantisches Universum aus Couplet und Zirkuslied, Heilsarmeekapelle und tschechischer Filmmusik, schmetternden Bläsern, schmierender Orgel, schneidenden Gitarren und schwelgendem Akkordeon. „Und ich frage dich nicht, wo du herkommst/ Du sagst mir nicht, wo wir sind/ Wir sitzen hier fest, was auch immer geschieht/ Verwirrt, träge und verliebt“: Regener malt zerstörte Idyllen der Liebe und der Verwirrung, des Abschieds und der Sehnsucht.

„Nicht einmal das Meer darf ich wiedersehen/ Wo der Wind deine Haare vermisst/ Wo jede Welle ein Seufzer/ Und jedes Sandkorn ein Blick von dir ist/ Am liebsten wär ich ein Astronaut / Und flöge auf Sterne wo gar nichts vertraut und versaut ist durch eine Berührung von dir/ Ich werde nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier.“ Dieser letzte Walzer handelt vom Vergangenen, von Vergeblichkeit und illuminierten Momenten, und nur ganz selten schießt die Wirklichkeit des Jahres 1993 in die wunderbar patinierten Stücke. David Young produzierte „Weißes Papier“ als herzzerreißenden Schwof in einem Ballsaal ewiger Melancholie.

#6

Ideal

Ideal

1980 IC

„Ich fühl mich gut, ich steh auf Berlin“: Annette Humpe war der engen Kleinstadt Herdecke entkommen und fand an der Spree die Freiheit. Schon die Neonbabies (mit Schwester Inga) waren gut, doch bei Ideal kam die phänomenale Eigenart von Eff Jott Krüger und überhaupt der ganzen Band hinzu. Die aufmüpfig-schnippische Art, die verdreht spinnenbeinige Gitarre, die stolpernden Rhythmen – all das ist unwiderstehlich, das Album insgesamt ein wichtiger Moment der deutschen Popmusik. Dem eingängigen Wave-Art-Punk von „Blaue Augen“ und „Berlin“ stehen urbane (und sehr lustige) Installationen wie „Telepathie“ und „Hundsgemein“ gegenüber, auch beim Wiederhören spürt man die Energie und den wilden Übermut.

Natürlich sagt die Platte vor allem: Wir können deutsch singen und trotzdem gut sein.

#5

Trio

Trio

1981 Mercury

Man kann nachvollziehen, warum die Gruppe Trio zeitlebens aus dem inneren Kreis der ersten Punk- und New-Wave-Generation ausgeschlossen blieb: drei Ex-Progressive-Rocker Mitte 30 in Zirkus- und Komödienlaune, deren reduziertes Auftreten eine reine Konzeptidee war, weder Not noch Statement. Das ganz und gar Erstaunliche ist, wie Sänger Remmler, Gitarrist Krawinkel und Schlagzeuger Behrens aus dieser ungünstigen Ausgangsposition heraus eine derart brillante, idiosynkratische Platte gelang. Beatles-Freund Klaus Voormann nahm das gut geprobte Revue-Programm live in einem umgebauten Schweinestall auf, eine Bastelarbeit aus Chuck-Berry- und Schweißband-Riffs, einer lebenden Beatbox, Schlagerphrasen und nachgesungenen Fetzen aus Telefongesprächen oder Sportreportagen: „Soviel Pelze ham mich etwas abgelenkt/ Bei so ’nem ernsten Thema/ Schwanzparade/ Warum sind keine Fotografen hier?“

Die Unschuld, mit der sich dieses Album seine ganz eigene ostfriesische Pop-Art erfand, ist noch heute verblüffend. Und natürlich bekamen die eher seriösen, wenig wilden Typen damals viel leichter Zugang zur „ZDF Hitparade“, die echte Punks niemals eingeladen hätte. Der erste „Da Da Da“-Auftritt gehörte dann eben doch zum Verstörendsten, was das Saalpublikum dort je zu sehen bekommen hatte. Mission erfüllt.

#4

Ton Steine Scherben

Keine Macht für Niemand

1972 David Volksmund

Dieses Album ist mehr als nur Musik. „Keine Macht für Niemand“ ist das verbindende Element zwischen den letzten Nachzüglern der 68er und dem Beginn der antiautoritären und grünen Bewegungen. Es ist das berühmte kämpferische A im Kreis, das hier den Kurs bestimmt, aber auch die Sensibilität von Rio Reiser, wenn er singt: „Komm‘ schlaf bei mir“. Der „Rauch-Haus-Song“ schallte damals aus vielen besetzten Jugendzentren, „Wir müssen hier raus“ formulierte ein Unbehagen, das sich später im Punk Bahn brach. Überhaupt erinnern Ton Steine Scherben auf diesem Album sehr an Iggy & The Stooges: Junge Proleten, die sich austoben wollen, denen Staat und Gesellschaft aber immer wieder mit ihren Regeln, Ordnungen und Vorschriften dazwischen funken. Ton Steine Scherben waren die beste Rockband, die Deutschland hervorgebracht hat. Alle, die später kamen, haben von ihnen gelernt.

#3

Neu!

Neu!

1972 Brain

Was daran neu war? Oder ist? Erst mal, dass hier zwei Hippies ihre LSD-Träume und Klanginstallationen wie ein Krankenhauswaschmittel verpacken. Und dass dem Sound, den sie mit wenigen Instrumenten, Tape-Effekten und viel Abwarten kreierten, zwar alles Märchenhafte und Volkstümliche abgeht, er aber bis in die Frequenzspitzen lebendig und human ist. Beim Hören von „Neu!“ kommt man sich ja oft vor, als habe man aus Versehen auf einen Entscheidungs-Button geklickt, sich auf ein wildes, anderes Level katapultiert: vom quäkenden Blues „Weissensee“ zum tiefliegenden drone „Im Glück“, mit Möwen und Wassergluckern. Vom Presslufthammer-Punk „Negativland“ zum verhaltensauffälligen Gute-Nacht-Lied „Lieber Honig“.

Die erste Platte der Kraftwerk-Aussteiger Klaus Dinger und Michael Rother wurde oft auf den Trommel-Hit „Hallogallo“ reduziert, der damals sogar in Düsseldorfer Discos gelaufen sein soll. Die Bedeutung, die das Album für die kunstferne Musik-Avantgarde hat, geht allerdings viel weiter: „Musik für Kopf + Hose“ schrieb Dinger neckisch ins Innencover, aber sie ist auch gut für vibrierende Bauchdecken, Bizepse und jede Art von Nackenhaar. Dass diese Platte Generationen von Musikern von Bowie bis Stereolab beeinflusst hat, braucht man kaum mehr zu erwähnen.

#2

Kraftwerk

Die Mensch-Maschine

1978 Kling Klang/EMI

„Das ist ein Gesamtwerk. Wenn jemand ein Kraftwerk-Album besitzt, wird er schnell merken, dass alle zusammengehören“, erklärte Ralf Hütter vor zwei Jahren im Rolling Stone-Interview. Die Ergebnisse, zu denen unsere Jury gekommen ist, geben ihm einmal mehr recht.

„Die Mensch-Maschine“, das beliebteste Stück aus dem Kanon, überzeugt bereits äußerlich mit einem an den russischen Konstruktivisten El Lissitzky angelehnten Cover, das seinerzeit die Bildsprache von New Wave definierte. „Das Model“ ist ein Traum von einem Popsong, so kühl, elegant und verführerisch wie eins der Geschöpfe vom Laufsteg. „Neonlicht“ und „Die Mensch-Maschine“ wirken wie urbane Mantras, deren sanfte Monotonie neue musikalische Sphären eröffnet. Der zackige Funk von „Die Roboter“ bringt den Albumtitel auf den Punkt und entstand beim Zusammenspiel der zwei Schlagzeuger Wolfgang Flür und Karl Bartos mit ihrem neuen Sequenzer. Die Idee, sich auf der Bühne durch Androiden-Alter-Egos vertreten zu lassen, entstand genau hier.

Der Rolling-Stone-Bundesrat

Diese Musiker, Manager und Fachleute haben ihre Stimmen abgegeben

René Arbeithuber (Musiker, Slut)

Andreas „Bär“ Läsker

(Manager, Die Fantastischen Vier)

Blixa Bargeld

(Musiker, Einstürzende Neubauten)

Edgar Berger

(CEO Sony Music Germany)

Maik Brüggemeyer (Rolling Stone)

Christoph Dallach

(Redakteur, „Kulturspiegel“)

Max Dax

(Chefredakteur, „Spex“) Jan Delay (Musiker)

Bernd Dopp

(Chairman & CEO Warner Music Central & Eastern Europe)

Willy Ehmann (Music Man, Sony)

Christof Ellinghaus

(Labelbetreiber, City Slang)

Caroline Frey

(Chefredakteurin, „unclesally’s“)

Birgit Fuß (Rolling Stone)

Max Gösche (Rolling Stone)

Beat Gottwald (Manager, K.I.Z. u. a.)

Thomas Groß (Journalist, „Die Zeit“)

Torsten Groß (Rolling Stone)

Anne Haffmanns (Label-Manager, Mute/Domino)

Olaf Heine (Fotograf)

Joachim Hentschel (Rolling Stone) Birgit Heuzeroth

(Label-Manager, Beggars Group)

Alfred Hilsberg

(Labelchef, What’s So Funny About)

Klaus Kalaß (Rolling Stone)

Schorsch Kamerun

(Musiker, Autor, Theaterregisseur)

Andrian Kreye

(Redakteur, „Süddeutsche Zeitung“)

Albert Koch (Redakteur, „Musikexpress“)

Daniel Koch (Rolling Stone)

Eric Landmann (Manager, Beatsteaks u. a.)

Udo Lange (Musikmanager)

Daniel Lieberberg

(Label Head Rock/Urban, Universal Music Domestic) Tom Liwa (Musiker, Flowerpornoes)

Anna Loos

(Schauspielerin und Musikerin)

Mark Löscher

(Head of Four Music & Columbia)

Marteria (Musiker)

Maxim (Musiker, K.I.Z.)

Mathias Modica (Musiker, Munk)

Uli Mücke

(Head of New Music, EMI Germany)

Wolfgang Niedecken (Musiker, BAP)

Patrick Orth (Manager, Die Toten Hosen)

Eric Pfeil (Journalist, u.a. „FAZ“)

Dennis Plauk

(Chefredakteur, „Visions)

Jan Plewka (Musiker, Selig)

Peter Radszuhn

(Musikchef, Radio Eins)

Tobias Rapp (Redakteur, „Der Spiegel“)

Stephan Rath (Manager, Tocotronic)

Stefan Reichmann

(Labelbetreiber und Konzertveranstalter, Haldern Pop)

Tim Renner (Unternehmer, Motor)

Kiki Ressler

(Konzertveranstalter, KKT)

Michael Rother (Musiker, Neu!)

Norbert Schiegl

(Redaktiosleiter, „Musikwoche“)

Jörn Schlüter (Rolling Stone)

Ruben Jonas Schnell

(Journalist, „Byte FM“)

Thorsten Seif

(Geschäftsführer, Buback)

Berthold Seliger (Konzertveranstalter)

Frank Spilker (Musiker, Die Sterne)

Carsten Stricker (PR-Fachmann) Stefan Struever

(A&R-Manager, PIAS)

Arnim Teutoburg Weiss (Musiker, Beatsteaks)

Peter Urban (Journalist, NDR)

Stephan Velten (Promoter)

Uwe Viehmann

(Freiberuflicher Missionar)

Stefan Vogelmann

(Managing-Director, Broken Silence)

Linus Volkmann (Redakteur, „Intro“)

Benjamin von Stuckrad-Barre (Journalist und Autor)

Klaus Walter (Journalist und Radiomoderator)

Richard Weize

(Labelbetreiber, Bear Family)

Klemens Wiese

(Konzertveranstalter, DEAG)

Jan Wigger (Journalist, u. a. „Spiegel Online“)

Arne Willander (Rolling Stone)

Jürgen Ziemer (Rolling Stone)

Top 20

Alfred Hilsberg

01 DAF Die Kleinen und die Bösen

02 Mutter Ich schäme mich,

Gedanken zu haben …

03 Can Monster Movie

04 Cpt. Kirk &. Reformhölle

05 Kraftwerk Autobahn

06 Die Tödliche Doris Die 7

tödlichen Unfälle im Haushalt

07 Ton Steine Scherben Wenn die Nacht am tiefsten …

08 Blumfeld L’Etat Et Moi

09 Einstürzende Neubauten

Kollaps

10 S.Y.P.H. S.Y.P.H.

11 V.A. Lieber zuviel als zuwenig

12 FSK Stürmer

13 AG Geige Trickbeat

14 Die Haut Headless Body …

15 Trio Trio

16 Amon Düül II Phallus Dei

17 Holger Hiller Ein Bündel Fäulnis in der Grube

18 Die Goldenen Zitronen

Economy Class

19 39 Clocks Paint It Dark 20 Drafi Deutscher Shake Hands

Top Ten

Jan Delay

01 Nina Hagen Nina Hagen Band

02 Udo Lindenberg Andrea Doria

03 Rio Reiser Rio I.

04 Trio Trio

05 Dynamite Deluxe Deluxe Soundsystem

06 Stieber Twins Fenster zum Hof

07 Freundeskreis Quadratur des Kreises

08 Ton Steine Scherben Keine Macht für Niemand

09 Beatsteaks Smacksmash

10 Farin Urlaub Endlich Urlaub

Top Ten

Anna Loos

01 Rio Reiser Rio I.

02 Ton Steine Scherben

Keine Macht für Niemand

03 Selig Selig

04 Herbert Grönemeyer Mensch

05 Interzone Interzone

06 Holger Biege Circulus

07 Spliff 85555

08 Heiner Pudelko Mein Schatz 09 Silly Alles rot

10 Nina Hagen In Ekstasy

Favoriten

Blixa Bargeld

Abwärts AmokKoma

Can Soundtracks

Can Tago Mago

DAF Die Kleinen und die Bösen

Die Tödliche Doris Die tödliche Doris

Einstürzende Neubauten

Die Zeichnungen des Patienten O.T.

Einstürzende Neubauten 1/2 Mensch

Einstürzende Neubauten

Haus der Lüge

Einstürzende Neubauten

Tabula Rasa

Einstürzende Neubauten

Silence Is Se

Einstürzende Neubauten

Alles wieder offen

Hamonia Musik von Harmonia Kraftwerk Ralf & Florian

Kraftwerk Die Mensch-Maschine

Liaisons Dangereuses Liaisons Dangereuses

Neu! Neu!

Neu! Neu! 75

Ton Steine Scherben

Keine Macht für Niemand

Ton Steine Scherben

Wenn die Nacht am tiefsten …

Rio Reiser Rio I

Favoriten

Michael Rother

Bohren Und Der Club Of Gore Sunset Mission

Can Monster Movie

Club Of Chaos

The Change Of The Century Cluster Cluster II

Cluster Zuckerzeit

Holger Czukay Movies

Kraftwerk Autobahn

Kraftwerk Die Mensch-Maschine

La Düsseldorf La Düsseldorf

#1

Fehlfarben

Monarchie und Alltag

1980 Weltrekord/EMI

Keine Überraschung, dieses Ergebnis. Warum gewinnt immer „Monarchie und Alltag“? Weil die Platte so deprimierend und tiefsinnig ist und die Deutschen sich gern so sehen? Weil es bei uns insgesamt nur so wenig Musik gibt, die zwar fast jeder kennt, die aber trotzdem Underground-Nimbus hat?

„Monarchie und Alltag“ wurde damals ja keineswegs als universell verständlicher Ruf zu den Waffen konzipiert – obwohl es gerade die naive Überheblichkeit ist, die wir an unseren frühen Punks immer so schätzen. Auch musikalisch ist die Platte eher ein Genrealbum, stark von der damaligen Joy-Division-Cure-Mode geprägt, mit klirrendem Echo und ohne jede verzerrte Gitarre. Obwohl Fehlfarben, die es bei den Kölner Sessions zur LP im Sommer 1980 ja erst ein gutes halbes Jahr in dieser Form gab, ursprünglich den deutschsprachigen Ska etablieren wollten.

Die elf Songs stecken voller Privatwitze, zeitgenössischer Slogans („Die zweite Hälfte des Himmels könnt ihr haben“ ist ein Feministinnenspruch) und Düsseldorfer Kiez-Beobachtungen. Wer hat gemerkt, dass der Songtitel „Gottseidank nicht in England“ frei von den Dexys Midnight Runners zitiert ist? Und wer weiß, dass „Paul“ in der Fehlfarben-Clique die Bezeichung dafür war, dass zwei Kumpels gemeinsam den Flipper bedienten, einer rechts, einer links? „Paul ist tot“ heißt also: die Partnerschaft ist vorbei, die Wege trennen sich, die Nacht wird einsam.

Die paradoxe Hoffnung, man könne die Leere des Daseins, den Grauschleier der westdeutschen Immer-noch-Nachkriegslandschaft wenigstens im Erwachsenenalter leichter verdrängen, bewahrheitet sich nicht. Und „Monarchie und Alltag“, gemeinsam vom 23-jährigen Peter Hein und vom 21-jährigen Thomas Schwebel geschrieben, schafft es tatsächlich, dieser eher weichen Position eine verdatternde Härte abzugewinnen, eine schamlose Klarheit, ein Hauptschlagadern-Pochen.

Ohne dabei das große Selbstmitleid zu überspielen, das aus jedem Krähen von Heins Stimme klingt. Die Nostalgie war schon groß genug, aus jungen Stürmern waren innerhalb von zwei, drei Jahren alte Männer geworden: „Wir tanzten bis zum Ende/ Zum Herzschlag der besten Musik/ Jeden Abend, jeden Tag/ Wir dachten schon, das wär der Sieg“, singen sie, und die Schmach in diesen Worten versteht man auch dann, wenn man nie im Schlauch des Ratinger Hof festgesteckt hat.

Wie „Monarchie und Alltag“ als erstes (und vielleicht einziges) Album des deutschen Post-Punk über die Codes dieser inneren Kreise hinausweist, ohne sich dabei zu zugänglich und ranschmeißerisch zu geben – das könnte auch noch ein Grund sein, warum die Platte heute noch gehört, geliebt und gecovert wird. Und 21 Jahre nach der Veröffentlichung, im Jahr 2001, doch noch die Goldene Schallplatte erreichte.

Dass die meisten Menschen aus dem Stand nur den allseits ungeliebten Singlehit „Ein Jahr (Es geht voran)“ zitieren können, ist übrigens keine Schande. Das Stück hatte damals im Fehlfarben-Programm die Funktion des Anheizers am Konzertbeginn, und genau so hatten sie es im Studio benutzt, zum Warmspielen. Als Trailer und Lockstoff für diese ansonsten so strenge Platte erfüllt der Song nun auch seinen goldenen Zweck.

„Spacelabs fallen auf Inseln, Vergessen macht sich breit“: So lustig kann die Apokalypse klingen, auch in deutschen Industriegebieten.

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