Die UK-Freistil-Plattenfirma

„We Are 10!“ – stolz stand es in großen Buchstaben auf Plakaten, Einladungen und Konzettkarten. Das britische Hektroniklabel Warp hatte Geburtstag, und die dreitägige Party, die Anfang November in der Londoner „Old Truman Brewery“ stattfand, passte ausgezeichnet zum unkonventionellen Freistil der Plattenfirma aus Sheffield: Angenehm irritierende Auftritte, tobende Tänzer und ein gut versteckter DJ namens Aphex Twin, der euphorisiert die PA-Boxen umarmte und abschleckte. Sogar die isländische Nachtigall Björk war gekommen und hatte sich mutig ins Gedränge der ausverkauften Veranstaltung gestürzt Und warum die ganze Aufregung? Ganz einfach: Warp hat die Neunziger so stark geprägt, wie kaum ein anderes Label. Doch was noch wichtiger ist: Die Firma wurde nicht nur zeitgleich mit dem Fall der Mauer gegründet, sie hat auch geholfen, die Grenzen zwischen den Musik-Genres einzureißen.

Um das zu verstehen, müssen wir zurückschauen: 1987 eröffneten Steve Beckett und Rob Mitchell in Sheffield einen Plattenladen: „Warp Records“. Neben New Order, Nick Cave und dem typischen Indie-Angebot gab es dort auch ein Regal mit House Music aus Chicago und Detroit Ein mutiger Schritt, denn für die Anhänger von Rockmusik war „Disco“ schon immer die Inkarnation des Bösen. Doch bereits kurze Zeit später explodierte Acid-House, und die gesamte britische Independent-Szene veränderte sich: Selbst ehemalige Psychedelic-Rockbands wie The Shamen feuerten ihre alten Instrumente in den Mülleimer und stiegen um auf Sampler und Drumcomputer.

Und Warp, der Plattenladen, verwandelte sich in Warp das Label. Zunächst veröffentlichten Beckett und Mitchell nur die Musik von Freunden. Es sei denn, ein Fremder kam zufällig mit der Anpressung eines guten Stücks in den Laden, so wie George Evelyn von den Nightmares On Wax. Der Sound dieser sehr frühen Platten war harsch, funky und aufregend, so wie die Tracks von LFO, oder „Testone“ von Sweet Exorcist, das Projekt des ehemaligen Cabaret-Voltaire-Musikers Richard H. Kirk. „Bleep“ nannte man lautmalerisch diese futuristische, auch rhythmisch abwechslungsreiche Musik, die so wenig gemein hatte mit den damals so beliebten „Tekkno-Brettern“.

Auf Warps „Bleep“-Phase folgte Anläng der Neunziger die „Ambient“-Phase: Künstler wie Aphex Twin, Black Dog und Autechre produzierten ihre komplexen Stücke nun nicht mehr nur für den Dancefloor, sondern auch für die heimischen Stereoanlagen. Alben hießen „Surfing On Sine Waves“ oder ^Irtifical Intelligence“ – und genauso klangen sie auch. Pink Floyd und Lee Perry wurden wieder entdeckt und mit elektronischen Mitteln neu interpretiert. Auch HipHop wurde in einen neuen Kontext gebracht: Leicht überspitzt könnte man sagen – die Wurzeln von TripHop liegen in Sheffield.

Mitte der 90er Jahre begann bei Warp eine Entwicklung, die bis heute anhält: Weg vom unverwechselbaren, aber gleichmacherischen Labelsound; nun steht der Künstler und seine individuelle Vision im Mittelpunkt; Jimi Tenor mixt New Wave, Soul und Jazz mit einem ganz persönlichen Wahnsinn; Red Snapper benutzen bei Iive-Auftritten bis dato „verbotene“ Instrumente wie Drums und Stehbass, und Broadcast klingen so süß und verführerisch wie Velvet Underground mit einer jungfräulichen Nico.

Gleichzeitig sorgt das brillante Artwork von Designers Republik für die verbindende Labelidentität. Auch die Videos, die Chris Cunningham für Aphex Twin und andere Warp-Künstler drehte, waren so beeindruckend, dass der junge Regisseur nun für Hollywood gar Willam Gibsons Kult-Buch „Neuromancer“ verfilmen soll.

Zum Warp-Jubiläum sind jetzt drei Doppel-CDs erschienen: Jfnfluences“, „Chssics“und .Jiemixes“. Letztere steht für die Zukunft des Labels, und es ist interessant, wer da neben den üblichen Electro-Heads alles am Mischpult sitzt: Spiritualized, Pram, John McEntire, Labradford, Mogwai – also Musiker, die man eher mit Gitarren als mit Synthesizern assoziiert Folgerichtig ist Warp zurzeit gerade dabei, die kanadische Weirdo-Big-Band Godspeed You Black Emperor unter Vertrag zu nehmen – auch wenn der Chef Beckett dazu hier und heute offiziell noch nicht Stellung nehmen möchte. Und wenn man ihn fragt, von welchen Künstlern er träumt, dann scheint sich ohnehin ein Kreis zu schließen: Er räuspert sich kurz, nennt wie erwartet Kraftwerk und beginnt dann, von Joy Divison und Nick Cave zu schwärmen. Aber an Stil und Geschmack von Warp hat ja auch nie jemand gezweifelt.

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