The The: Matt Johnson im Interview – ist Deutschland der 51. Staat der USA?
Matt Johnson alias The The über sein Comeback mit „Ensoulment“ und der dazugehörigen Welttournee. Und die Frage, wie die Welt noch zu retten ist.

Mit „Ensoulment“ hatte Matt Johnson alias The The im Juli 2024 sein erstes Gesangsalbum seit 24 Jahren veröffentlicht. Seitdem tourt der Brite mit dieser Platte und seinen Klassikern wie „This is the Day“, „Heartland“ und „Dogs of Lust“ wieder durch die Welt. Darunter in diesem Jahr auch dreimal durch Deutschland. Am Nachmittag vor seinem Auftritt in der Hamburger Elbphilharmonie traf ROLLING STONE ihn zum Gespräch.
Mr. Johnson, ihr neuer Song „Where Do We Go When We Die?“ hat eine liebliche Melodie, fast wie ein Schlaflied. Es handelt aber vom Tod Ihres Vaters.
Ja, er verstarb zwei Tage vor dem The-The-Comeback in der Londoner Royal Albert Hall 2018. In einer der Logen hätte er gesessen. Dann hätte ich zu ihm hinaufblicken können. Leider habe ich inzwischen meine gesamte Familie, mit der ich geboren wurde, verloren, bis auf meinen jüngeren Bruder. Also zwei Brüder verloren, meine Mutter und meinen Vater. Und ich habe für jeden von ihnen einen Song geschrieben. Ich hoffe, dass ich nie wieder solche Songs schreiben muss. Es ist eine Art Therapie für mich. Für Eugene hatte ich „Love Is Stronger Than Death“ geschrieben. Für meine Mutter hatte ich „Phantom Walls“ geschrieben. Und für Andrew habe ich „We Can’t Stop What’s Coming“ geschrieben.
Verlust und Verarbeitung im Songwriting
„Where Do We Go When We Die?“ war ein Titel, den ich schon seit einigen Jahren im Kopf hatte. Die Melodie war einfach da. Aber ich hatte noch nichts damit gemacht. Als mein Vater starb, habe ich den Song natürlich nicht sofort geschrieben – weil ich am Boden zerstört war und eine Weile gebraucht habe, um das zu verarbeiten. Ich stand meinem Vater sehr nahe. Wir haben jeden Tag miteinander telefoniert. Und ich denke sehr oft an ihn. Eine Sache, die nicht nur meinen Vater, sondern meine ganze Familie auszeichnet, ist die Meinungsstärke. Er äußerte oft seine Meinung zu politischen Situationen oder emotionalen Situationen. Wir kannten uns natürlich sehr gut.
„To the sound of raindrops“, singen Sie, „To the ticking of the clock / We packed your clothes and your books /Took them to the charity shop“. Sie haben die meisten Sachen Ihres Vaters verkauft?
Es ist meine liebste Stelle in dem Lied. Die Zeit der Trauer kann auch von Banalitäten erfüllt sein. Eigentlich kann es eine kleine Sache sein, die Habseligkeiten von jemandem zusammenzupacken, die Habseligkeiten eines ganzen Lebens. Und diese Dinge, die für diese Person so wichtig waren, sind auch für dich wichtig. Aber was macht man mit diesen Sachen? Man weiß, dass man sie nicht behalten will. Ich habe immer wieder zurückgeschaut. Man kann nicht alles behalten. Man kann nicht die Kleidung von allen behalten.
Familiendynamiken und Spiritualität
Diese kleinen Gegenstände, die aufbewahrt wurden … man muss einfach loslassen. Und mein Vater hatte viele Bücher. Einige davon habe ich ja behalten. Mein Schwager ging zum örtlichen Wohltätigkeitsladen und zum Recyclingzentrum und veranstaltete Auktionen, nur um den Kram loszuwerden. Und die Sachen gehen jederzeit weg, bekommen neue Besitzer und ein neues Leben. Man ist doch mehr als nur sein materieller Besitz. Und man lebt in den Menschen weiter, die einen kannten. In ihren Herzen und in ihren Köpfen.
„The old has ended and the new has begun /Sons become fathers, fathers become sons“, heißt es außerdem in „Where Do We Go When We Die?“ Was genau meinen Sie damit?
Ich bin sicher, jeder merkt, wie sich die Dynamik verändert. Die Kinder werden dominanter im Leben, und die ältere Generation wird schwächer und bedürftiger, vor allem weniger einflussreich. Die Alten müssen selbst versorgt werden. Das ist die Familiendynamik. Und die große unbeantwortete Frage für uns Lebende lautet: Was passiert, wenn wir sterben? Wohin gehen wir, wenn wir sterben?
Über Erinnerung und spirituelle Präsenz
Und was denken Sie?
Ich glaube daran, dass es weitergeht. Ich glaube nicht an Religion, aber ich glaube an eine Art Gott und eine höhere organisierende Intelligenz, die manchmal gütig ist. Und ich glaube, dass es etwas Größeres, eine höhere Bestimmung gibt. Und außerdem denke ich, dass es unmöglich für uns ist, die Geheimnisse des Kosmos zu erklären.
„Everybody knows, what’s going wrong in the world“, sangen Sie einst. „But I don’t Even know what’s going on in myself“.
Ist irgendjemand weiser geworden mit dem Alter? Und wer versteht das Universum? Das ist so, als würde man einem Goldfisch erklären, wie unser Kühlschrank funktioniert. Ich glaube einfach nicht, dass wir dazu in der Lage sind. Es gibt verschiedene Theorien in der Quantenphysik. Über die Idee, dass dies möglicherweise ein holografisches Universum ist. Dass wir Avatare sind.
Leben in der Matrix. Das Universum als eine Simulation.
Und wir sind ein Teil unseres Bewusstseins, das sich durch diese Avatare, die wir unseren physischen Körper nennen, äußert. Verschiedene Theorien versprechen Erklärungen. Aber alles, was wir wissen, bleibt dennoch ein großes Rätsel. Das Wichtigste ist, das Leben so gut wie möglich zu leben. Freundlich zu sein, seine Familie und seine Freunde zu lieben und zu versuchen, sich selbst auszudrücken und ein positives Leben zu führen.
In „I Hope You Remember (The Things I Can’t Forget)“ singen Sie von der Unmöglichkeit, Materielles zu beseelen.
Nun, wir steuern auf eine technokratische Gesellschaft zu, in der milliardenschwere Oligarchen die Kontrolle über den Planeten zu übernehmen scheinen. Und natürlich ist KI ein Teil davon. Und wir wissen, dass KI schreckliche Auswirkungen auf die Beschäftigung haben wird. Ich hatte viele Probleme mit institutionalisierter Religion, wissen Sie. Mit dem Missbrauch institutionalisierter Religion. Meist in Form von Kontrolle und Zwang. Aber nun ist es so, dass Religion langsam verschwindet – zumindest das Christentum. Der Islam nicht. Doch es gibt eine spirituelle Leere. Und sie entsteht durch diese technokratische, wissenschaftliche Sozialtechnik, die wir sehen. Und durch eine Gesellschaft, die süchtig nach Konsum ist.
Selbstverständnis und Unverständnis
Woran machen Sie das fest?
Ich sehe das bei meinen eigenen Kindern und anderen Kindern. Sie können sich nicht vom Telefon losreißen, das ist wirklich erschreckend. Zur spirituellen Leere gesellt sich eine moralische, ethische Leere, und wir sehen das jetzt in der globalen Politik. Es gibt bestimmte Länder, die geradezu locker mit Krieg umgehen. Ich bin sehr gegen Krieg. Das größte Problem entsteht, wenn Staats- und Regierungschefs nichts über Krieg wissen. Sie haben ihn nicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebt, in den Jahren, in denen die Erinnerung noch frisch war. Wissen Sie, das Letzte, was vor Jahrzehnten irgendjemand in Europa für sein Land wollte, war ein weiterer Krieg. Aber jetzt sind wir von Kriegen umgeben. Vor ein paar Tagen hat Israel den Iran angegriffen.
Wie blicken Sie aktuell auf Ihr Land?
Großbritannien wird von dem wahrscheinlich unbeliebtesten Premierminister geführt, den wir je hatten. Keir Starmer, der ein Kriegshetzer ist, ein absoluter Kriegshetzer. Er hat kein Interesse daran, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen, mit denen Großbritannien konfrontiert ist. Er will sich nur in den Krieg mit Russland einmischen.
Eine Führungsrolle in der Diplomatie im Ukrainekrieg beansprucht er jedoch nicht.
Ja, aber ich glaube, das täte er gern. Ich glaube, er mag Trump nicht, weil Trump ihn auch nicht mag, Aber Keir Starmer ist sowieso einer der Jünger von Blair, und Blair war ein absoluter Kriegstreiber. Auch wenn ich der Auffassung bin, dass es supranationale Institutionen sind, die wirklich die Fäden ziehen, egal wen wir wählen. Der Wille der Bevölkerung wird ignoriert. Und deshalb haben wir, wie ich vermute, in Amerika und in Großbritannien in den letzten Jahren jemanden wie Donald Trump gewählt und den Brexit bekommen, weil es eine solche Enttäuschung über das politische System gibt. Obwohl Donald Trump natürlich gelogen hat, und ständig lügt. In seiner ersten Amtszeit sagte er, er werde den Sumpf trockenlegen, den Deep State beseitigen. Aber man kann davon ausgehen, dass er Leute wie John Bolton und Mike Pompeo erst richtig reingeholt hat.
Brexit, Misstrauen und Wut auf das System
Wie erklären Sie sich den Brexit?
Der Grund für den Brexit ist nicht, dass die Menschen in Großbritannien gegen Europa sind. Sondern dass sie die Elite in Westminster und die EU hassen. Es gibt ein Misstrauen gegenüber Menschen, die nicht vom Volk gewählt wurden, sondern von einem Gremium ernannt. Wie Ursula von der Leyen. Die EU-Kommission ist sehr korrupt und sehr unverantwortlich. Sie trifft diese Entscheidungen, und die einfachen Leute haben nicht einmal ein Mitspracherecht. Und deshalb gibt es in ganz Europa viel Unzufriedenheit, die sich in einer „Na ja, warten wir ab“-Haltung äußert. Die Labour-Partei wird genauso gehasst wie die Tories, denn die Labour-Partei ist nicht mehr die Labour-Partei. Und die Demokratische Partei in Amerika ist nicht mehr die Demokratische Partei.
Spätestens in den Nullerjahren begannen die Parteigrenzen zu verschwimmen.
Tony Blair, der Labour-Premierminister, steckte mit George W. Bush, einem republikanischen Präsidenten, unter einer Decke und hat einen illegalen Krieg im Irak begonnen. Einige Jahre später kam David Cameron, ein konservativer britischer Premierminister, mit Barack Obama zusammen, einem demokratischen Präsidenten. Gemeinsam verfolgten sie eine Außenpolitik wie Blair und Bush. Die Außenpolitik ist identisch: mehr Bombenangriffe im Ausland, Privatisierung, Raub von Ressourcen.
Das ist Neokolonialismus, und die Menschen haben es satt, absolut satt. Aber niemand Kluges fängt sie auf. In Großbritannien gibt es die „Reformpartei“ unter der Führung von Nigel Farage, der einer der Architekten des Brexit war. Die meisten Menschen hassen Labour, sie hassen die Tories, weil sie im Grunde genommen ein und dasselbe sind, genau wie in Amerika Demokraten und Republikaner. Und so entstehen Möglichkeiten für Leute wie Donald Trump und Nigel Farage, weil die Menschen nicht wissen, wohin sie sich politisch wenden sollen.
Amerikanische Dominanz und kulturelle Erosion
In „Heartland“ von 1986 bezeichnen sie Großbritannien als 51. Staat der USA. Bei ihrem Konzert in Berlin im September 2024 bezeichneten Sie Deutschland als den 51. Staat der USA. War das ein Bühnen-Gag, den Sie von Auftrittsland zu Auftrittsland variieren?
Über Großbritannien kann ich sagen, dass die Amerikaprägung nicht schwächer geworden ist. Das UK ist am meisten von dieser Kultur geprägt, weil wir eine gemeinsame Sprache haben mit den Amerikanern. Das bedeutet natürlich, dass ihre Kultur die meisten TV-Programme, die die Leute sehen, durchdringt. Und die meisten unserer Unternehmen wurden von amerikanischen Unternehmen übernommen. Wir sind sehr, sehr stark von den USA dominiert. Wann immer es einen Krieg gibt, werden wir offensichtlich mit hineingezogen. Wenn man bedenkt, dass an einem durchschnittlichen Tag jeder Zweite auf sein Apple iPhone schaut, vielleicht mit Google oder was auch immer ins Internet geht – das ist alles Amerika.
Britische Suchmaschinen sind irrelevant. Viele britische Fußballvereine sind in amerikanischem Besitz. Jetzt gehört mein Verein, Manchester United, all diesen schrecklichen Amerikanern. Viele andere Vereine gehören den Golfstaaten. Das Land wurde verkauft. Das Land wurde verschleudert. Die Versorgungsunternehmen – wir wissen nicht einmal mehr, wem sie gehören. Sogar die Flughäfen wurden verkauft. Das ganze Land wurde verkauft. Was ist für Sie britisch?
Die Royals.
Ich bin kein Fan von den Royals. Aber ich würde sagen, die Alternative könnte sein, dass man in einer Republik am Ende Tony Blair als Präsidenten hätte, was noch schlimmer wäre. Man kann es machen wie Schweden oder die Niederlande – Einfluss und Reichtum der Königlichen massiv reduzieren. Nur noch als harmlose Galionsfigur fungieren lassen. Prinz Charles scheint ein bisschen wie ein Clown zu sein. Aber ob wir als Republik besser dran wären, muss man sich gut überlegen. Denn Republiken haben genauso ihre Probleme wie Monarchien.
Älterwerden und Songinterpretation
In „Jealous of Youth“ singen Sie von ebenjenem Neid auf die Jugend, und in „Slow Emotion Replay“, das sie als „Slow Emotion Replayed“ jetzt neu aufgenommen haben, davon, dass Sie die Welt nicht verstehen, weil Sie sich selbst nicht verstehen. Sie sind nicht weitergekommen?
„Jealous of Youth“ wird doch textlich gesehen sogar relevanter. Ich werde schließlich älter. „But now the autumn leaves are turning to the color of rust / I’m getting jealous for youth’s first yearnings for lust.“ Mein Song-Repertoire ist größer geworden, also muss ich für die Konzerte Entscheidungen treffen. Es gibt viele Songs, die gut zu spielen wären, und bei jeder Tour habe ich versucht, einige davon wieder aufzunehmen. Bei der Tour letztes Jahr haben wir „August & September“ und „The Whisperers“ ausgegraben. „Jealous of Youth“ steht für die nächste Tournee auf dem Zettel.
Verändert sich für Sie die Bedeutung eines Songtexts über die Jahre?
Natürlich. „This is the Day“. Darin heißt es: „You’ve been reading some old letters /You smile and think how much you’ve changed / All the money in the world / Couldn’t buy back those days“. Der Song erschien 1983, als ich 21 Jahre alt war. Im Jahr 1989 verstarb mein Bruder Eugene. Mein Bruder Gerard und ich fanden Briefe, Liebesbriefe zwischen Eugene und seiner Freundin. Es hat mich zum Weinen gebracht, als ich diese Briefe gelesen habe. Der Song bekommt für mich immer mehr Bedeutung. Es ist bei weitem mein erfolgreichster Song. Die meisten meiner unmittelbaren Familienangehörigen sind gestorben. In diesem Moment, beim Lesen der Briefe, war es, als wäre ich in dem Song.
In einem Ihrer frühesten Lieder, „Perfect“, sangen Sie: „Die Zukunft ist Jetzt – aber jetzt läuft alles schief“. Leiden Sie heute mehr unter Politik – oder sind Sie entspannter geworden?
Oh, mit dem Alter bin ich entspannter geworden. Aber ich habe Kinder, und da macht man sich natürlich Gedanken über die Zukunft. Über die technokratische, autoritäre Gesellschaft, Gesichtserkennung, Sozialkredit-Scores, Internetzensur, Überwachungsstaat. Wissen Sie, ich hatte ein gutes Leben. Ich mache mir halt Sorgen um meine Kinder. Ich mache mir Sorgen um alle anderen Kinder. Mir liegen alle Kinder am Herzen, ebenso die Welt, die sie von uns erben werden. Aber auf persönlicher Ebene bin ich ziemlich entspannt. Ich bin als Mensch ziemlich glücklich.
Entspannt im Alter, besorgt um die Kinder
Schule hat Sie früh gelangweilt, in „Down By The Frozen River“ singen Sie vom Schwänzen und Flucht in die Natur. Sind Sie selbst ein strenger Vater?
Meine Eltern waren nicht akademisch. Sie waren sehr intelligent, aber sie haben sich durch den Zweiten Weltkrieg kämpfen müssen. Die Arbeiterklasse hatte nicht viele Möglichkeiten. Sie konnten mir keine akademische Anleitung geben, obwohl mein älterer Bruder einen College Abschluss gemacht hatte und alles. Aber ich nicht. Ich weiß nicht, ob ich streng bin. Wahrscheinlich nicht. Aber ich fordere von meinen Söhnen, dass sie die Dinge richtig machen. Ich bin wohl etwas zu nachsichtig. Obwohl ich sie auch zurechtweise und ermahne: „Du musst das tun. Du musst deine Hausaufgaben machen.“
Sie waren Co-Gründer der „East End Preservation Society“, einer Interessenvereinigung zum Schutz alter Bauten in London, gerade im Osten. Der Westen verändert sich natürlich auch. Was halten Sie zum Beispiel von … dem London Eye?
Nun, dieses Riesenrad sollte eigentlich nur vorübergehend da stehen. Es sollte eigentlich zum Millennium abgebaut werden. Die Positionierung ist völlig maßlos, es steht so nah am Parlamentsgebäude, und es ist hässlich. Und das davor befindliche Gebäude war die County Hall, die früher der Sitz des des GLC war, also des Greater London Council, der von Ken Livingstone geleitet wurde, der sehr links war. Margaret hasste ihn. Also schaffte sie den GLC ab, was unglaublich war. Jetzt ist das ein Luxushotel, glaube ich, das den Japanern gehört. Wieder ein Beispiel dafür, dass öffentliche Einrichtungen und Gebäude verstopft werden. Sie stopfen dort den Millennium-Stecker rein und lassen ihn einfach stecken.
Aber viele der meisten hohen Gebäude stören mich, weil keine Rücksicht auf Tageslicht und Sonnenlicht für die Menschen in den kleineren Gebäuden genommen wird. Wir alle legen Wert auf Tageslicht. Und Sonnenlicht sollte ein Grundrecht sein. Unabhängig davon, wo man lebt und arbeitet. London hat ein sehr korruptes und inkompetentes Planungssystem. Ich weiß nicht, wie viel Prozent davon Korruption sind und wie viel Prozent Inkompetenz. Vielleicht ist es 50:50.
Politische Stimmen in der Musik
In den 1980er-Jahren galten Sie als einer der wichtigsten politischen Sänger Großbritanniens. Warum gibt es heute keine jungen britischen Musiker, die zur politischen Bewusstseinsbildung beitragen?
Es gibt sie, aber sie werden nicht gehört, weil sie nirgendwo abgespielt werden. Musik ist weniger wichtig geworden. Leider. Die jüngere Generation spielt auf ihren Handys Videospiele. Als ich ein Kind war, war ich besessen davon, Singles zu kaufen, Musik zu hören, in einer Band zu sein. Das war mein ganzes Leben. Musik ist als kulturelle Form nicht mehr wichtig. Sie ist zwar immer noch bis zu einem gewissen Grad wichtig, aber für die jüngere Generation nicht mehr so wichtig wie für meine Generation. Sie hören immer noch ein bisschen Musik, aber eher als Hintergrund. Und sie haben vielleicht ein bisschen Musik auf ihrem Handy laufen, während sie auf Snapchat herumspielen.
Aber irgendeine Kunstform muss als Ausdruck von Rebellion doch noch gut sein?
Darüber habe ich mit meinem jüngsten Sohn gesprochen, dem ich kein Videospiel zum Geburtstag schenken wollte. Ich wollte es nicht, weil er süchtig danach wird. Ich sagte: „Sei nicht nur ein Konsument.“ Ich sagte, du bist ein intelligenter Junge. Und ich sagte, du musst dich selbst ausdrücken. Du nimmst Dinge auf, aber du musst auch etwas tun, sonst wirst du zu einem passiven Konsumenten. Du musst dich ausdrücken und ein aktives Mitglied der Welt sein. Sonst endest du wie in diesem Film, „Wall: E“, wo die letzten Menschen träge und aufgeschwemmt durchs Weltall gleiten.
Reflexion über Zeitgenossen und Protestsänger
Was halten Sie von den Kollegen aus Ihrer Generation?
Billy Bragg gab es natürlich, aber Billy Bray wurde so etwas wie ein Stammgast bei BBC Radio Four. Eine Art von Arbeiterklasse, die für die Leute akzeptabel ist. Seine Musik ist aber auch ein wenig … eindimensional. Haben Sie den Bob-Dylan-Film gesehen?
„Like a Complete Unknown“? Nein, ich mag den Regisseur nicht.
Nun, beim Thema Protestsänger landet man jedenfalls bei Dylan. Die junge Frau, die Joan Baez spielt, ist gut darin. Timothée Chalamet ist gut darin. Ed Norton der Pete Seeger spielt, ist gut darin. Und Dylan war quasi als Drehbuchredakteur beteiligt, weil der Regisseur mit dem Drehbuch zu Dylan gegangen ist, und Dylan hat es durchgelesen und gesagt: Nein, so hätte ich das nicht gesagt. Oder: Ja, das hätte ich gesagt. Aber ich denke, es gab eine Authentizität in Bezug auf den Versuch, Dylans Stimme wirklich wiederzugeben, indem man Dylan einbezog. Die Frau, die Joan Baez spielte, hat nur für den Film singen und Gitarre spielen gelernt.
Jedenfalls weiß ich, dass Bob Dylan, als er jünger war, es hasste, als Protestsänger bezeichnet zu werden. Er schrieb viele Liebeslieder. Er schrieb Songs über alles Mögliche, er schrieb wie Leonard Cohen und Lou Reed. Singer-Songwriter, die auf einer tiefen Ebene schrieben, aber nicht unbedingt Protestsänger sind. Sie behandelten tatsächlich ein breites Spektrum an tiefgründigen, wichtigen Themen, sei es Politik, Liebe oder Tod. Ich verfolge die zeitgenössische Musik nicht besonders, weil sie so fragmentiert ist und es derart viele Sachen gibt, dass ich nicht den Überblick behalten kann. Ich weiß aber, dass es viel gute Musik gibt, und mein ältester Sohn schickt mir Sachen. Kennen Sie Kneecap?
Kunst, Selbstzensur und Cancel Culture
Den „Kneecap“-Film hatte ich nach 20 Minuten ausgemacht, er wirkte wie eine billige „Trainspotting“-Kopie. Wegen ihrer Haltung zum Gazakrieg werden Kneecap, zumindest in Deutschland, gecancelt.
Ein Crew-Mitglied meiner Tournee hat mich auf die Kontroverse hingewiesen, die Musik kenne ich nicht. Aber ich finde es verrückt, dass man nicht mit palästinensischen Frauen und Kindern sympathisieren kann, ohne als antisemitisch bezeichnet zu werden. Es ist verrückt, dass man nicht gegen die Fortführung dieses Krieg sein darf. Jeder anständige Mensch ist gegen Leid. Im ungünstigsten Fall führt Cancel Culture zu Selbstzensur, weil die Leute Angst haben, etwas Falsches zu sagen, etwas Falsches zu tun und falsch verstanden zu werden. Es ist eine sehr gefährliche Zeit. Mich erinnert das in manchen Fällen an die McCarthy-Ära.
Rückkehr zum Omnichord und kreative Einfachheit
Einige ihrer frühen Stücke, „This is the Day“ oder „Perfect“ entstanden auf dem Omnichord. Für „I Want 2 B U“ oder „Slow Emotion Replayed“ kehren Sie zu dem Instrument zurück. Warum?
Es ist, als würde ich mein älteres Ich spüren. Das Omnichord hat etwas Naives an sich, was mir sehr gefällt. Es reduziert die Dinge auf das Wesentliche. Es ist ziemlich begrenzt. Man hat eine bestimmte Anzahl von Knöpfen, die verschiedenen Akkorden zugeordnet sind, und sehr rudimentäre Rhythmusmaschinen. Ich erlebe ein Paradoxon: Dass die Aufnahmetechnik immer ausgefeilter wird, aber die Kreativität dann abnimmt. Wenn man Pro Tools für ein beliebiges Instrument verwendet, riesige Sample-Bibliotheken … dann weiß man am Ende einfach nicht mehr, wo man anfangen soll. Ich denke also, dass die Reduzierung der Optionen die Kreativität anregt. Aus dieser Sicht gefällt es mir. Wissen Sie, ich mag Einfachheit. Ich mag auch das Wort Einfachheit. Vielleicht einfach mal acht oder 15 Spuren verwenden, statt 100 oder 300 Spuren, das wird sonst zu viel.
Zukünftige Projekte und Veröffentlichungen
Welche Projekte stehen jetzt an –wird das „Gun Sluts“-Projekt aus den späten 1990er-Jahren noch das Licht der Welt erblicken? Gibt es ein weiteres Studioalbum?
Nach Ende der Tournee produzieren wir den Live-Film sowie das Live-Album zur „Ensouled“-Konzertreise. Aufgenommen im Sydney Opera House. Es erscheint 2026. Ich habe momentan so viele Projekte am Laufen! Also, die Tournee endet im Juli. Ich gehe direkt ins Studio, um den Soundtrack zu „Odyssey“ vorzubereiten, den Score zum neuen Film meines Bruders Gerard. „Odyssey“ läuft bereits auf Festivals und wird im September in die Kinos kommen. Dazu erscheint die Dokumentation „Inertia Variations“ im Oktober auf Blu-ray. Darin geht es um meinen Radiosender „Radio Cineola“, und um vieles mehr.
Und ich arbeite an einem sehr großen Buchprojekt. Es handelt sich um eine autobiografische Interviewreihe zwischen mir und einem Mann namens Jason Wood, der das British Film Institute in London leitet. Er ist Autor von etwa zwölf Büchern über Film, und wir sind gute Freunde geworden. Es ist also ein ziemlich großes Projekt, ein Buch, an dem ich im Oktober arbeiten werde. Außerdem kommt bald eine neue Single – und ja, ich werde auch neue Songs für ein neues Album komponieren.
Der „Radio Cineola“-Jingle ist eine Variation Ihres Songs „Shrunken Man“, richtig?
Genau!
Warum spielen Sie diesen Song eigentlich nie live? Er ist einer Ihrer besten.
Absolut, wir planen ihn für eine kommende Tournee ein. Mein Katalog ist halt nicht sehr klein, es ist nicht leicht, für die Setlist eine Balance zu halten zwischen persönlichen Favoriten und den Klassikern. Zum Radio: Ich liebe Kurzwelle, aber es gibt kaum noch Sender. Ich habe viele schöne Radios zu Hause. Ich sitze da und lausche dem Äther. Als warte man auf Geister.