Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Die Klasse von ’86

Spätestens jetzt, 2016, sollte klar sein, worum es sich popmusikalisch in diesem Jahr drehen wird: um das Jahr 1986 und seine musikalischen Glanzlichter.

Folge 101

Es ist genau 30 Jahre her, als Musikproduzenten es für eine gute Idee hielten, die Snare Drum auf zeitgenössischen Mainstream-Produktionen so laut und groß klingen zu lassen, dass man ganze Tom-Cruise-Blockbuster auf diesen Snare Drums drehen konnte. Der Nachhall eines einzelnen Snare-Schlags etwa auf einer Tina-Turner-Platte jener Zeit war so episch, dass man in Ruhe in die Küche gehen und sich eine Tasse Tee aufgießen konnte, und beim Zurückkehren hallte es immer noch nach.

Mainstream klang nie ekliger als 1986, und diesen Mainstream gilt es nun, 30 Jahre später, ganz dringend wiederzuentdecken. Unter anderem ist 2016 mit Deluxe-Jubiläums-Reissues folgender 86er- zu rechnen: „Burning Heart“ von Survivor, „The Final Countdown“ von Europe, „Invisible Touch“ von Genesis und „Top Gun – The Soundtrack“. Wem das Ausmaß des Schreckens jener Ära noch nicht ganz klar geworden sein sollte, der sei an einige beliebte Gassenhauer des Jahres erinnert: Zu den meistverkauften Singles in Deutschland zählten damals „Geil“ von Bruce und Bongo, das Slap-Bass-Ungetüm „Lessons in Love“ von Level 42 und Chris Normans „Midnight Lady“, ein Lied, das mehr Dorfkneipentristesse in sich birgt, als das Gesamtwerk Marius Müller-Westernhagens. Es war zudem die Glanzzeit von Chris de Burgh, der im Jahr 1986 gefühlt in allen „Wetten, dass..?“-Sendungen vor trockeneisumpusteten Autowracks seine Lieder sang. Bob Dylan brachte im Juni sein angemessen betiteltes Midlife-Crisis-Werk „Knocked Out Loaded“ heraus, und ich – damals gerade 15 – kaufte mir bei C&A ein Leinensakko, in dem ich aussah wie eine schlechte Idee auf Beinen. Es waren stürmische Zeiten.

Es gibt drei Songs, welche die musikgewordene Neonpfütze namens 1986 für mich zum Überschwappen brachten; drei Lieder, in denen man noch immer das dunkle Herz von 1986 schlagen hören kann: „Take My Breath Away“ von Berlin, „(I Just) Died In Your Arms“ von Cutting Crew und „Kyrie“ von Mr. Mister Schauen wir uns Songs und Bands genauer an: „Take My Breath Away“ – zu finden auf dem „Top Gun“-Soundtrack – war eine klassische Powerballade, die durch einen modischen Fretless-Bass kompromittiert wurde. Der von Giorgio Moroder und Tom Whitlock komponierte Song konnte im Folgejahr gar einen Oscar als bester Originalsong einheimsen. Sängerin Terri Nunn war später mal Gastsängerin bei Sisters of Mercy. Das Video zum Song ist fad, versammelt es doch ausschließlich Filmszenen des blöden Kriegsverherrlichungsmachwerks. Erwähnt werden sollte dringend, dass Judas Priest das Angebot, ebenfalls einen Soundtrackbeitrag abzuliefern, ablehnten, da die seherisch offenbar eher unbegabte Band einen Flop erwartete.

Songtitel, die mit eingeklammerten Wörtern arbeiten, haben stets etwas Prätentiöses. Am eigentlichen Song „(I Just) Died In Your Arms“ von Cutting Crew findet sich indes nichts Verstiegenes. Das Lied würde bloß unauffällig vor sich hintuckern – käme nicht immer wieder dieser überlebensgroße Refrain. Die Cutting Crew war das Projekt eines gewissen Nick von Eede, der seine Karriere als ebenso 18-jährige wie Kazoo-spielende Ein-Mann-Vorband von Slade begann. Wer nach so einem fulminanten Start unbedingt noch Songs mit prätentiösen Einklammerungen schreiben muss, dem ist eigentlich nicht mehr zu helfen. Die Karriere der Cutting Crew ging zu Ende, bevor die im Clip getragenen Frisuren aus der Mode gekommen waren. 2002 tourte Sänger von Eede noch mal mit der Night of the Proms durch Deutschland.

Zuletzt zum ästhetisch herausforderndsten der drei Stücke: „Kyrie“ von Mr. Mister, einer Ansammlung spektakulär frisierter Ex-Studiomusiker, denen neben fortgeschrittenem Haarspraymissbrauch auch der allzu sorglose Umgang mit schmierigen Keyboard-Sounds vorzuwerfen ist. Das Video zum Song eröffnet mit Aufnahmen einer recht aufschneiderischen Lichtanlage. Davor steht Sänger Richard Page und brennt ein Feuerwerk verbotener Gesten ab. Mein Gott, was drückt der Mann auf die Tube! Nachdem irgendwann nicht mehr allzu viel brannte und die Lichtanlagen um etliche Birnen ärmer waren, wirkte Page als Songwriter und Backgroundsänger, unter anderem für Madonna und die 4 Non Blondes. Ein Freund erzählte mir, Page sei bei Ringo Starrs elfter und zwölfter All-Star-Band dabei gewesen, wobei man sagen muss, dass diese beiden Inkarnationen von Ringos ganz persönlicher Night of the Proms nicht eben das schillerndste Lineup aufzubieten hatten. Moment, habe ich eben die 4 Non Blondes erwähnt? Vielleicht war Mainstream 1992 ja doch noch ekliger als 1986. Ein Pop-Tagebuch-Eintrag zum Thema „The real Class of 92“ lässt sich nicht viel länger aufschieben.

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