Ernest Hemingway, der Besiegte

Arne Willander zum 60. Todestag von Ernest Hemingway: Abenteurer, Kraftmensch, Dichter des Krieges, des Stierkampfes, der Großwildjagd und der Existenz.

Am Vormittag des 2. Juli 1961 nahm ein alter, kranker Mann in einem Haus in Ketchum, Idaho seine Schrotflinte aus dem Schrank, suchte die Patronen, die er zurückgelegt hatte, und lud die Waffe. Dann schoss er sich in den Mund. Seine Frau und ein Begleiter, die bereits zur Jagd aufgebrochen waren, hörten den Schuss aus dem einsam gelegenen Haus.

So endete das Leben von Ernest Hemingway, dem damals berühmtesten aller Schriftsteller, Pulitzer- und Nobelpreisträger, Abenteurer, Kraftmensch, Dichter des Krieges, des Stierkampfes, der Großwildjagd und der Existenz. Sein metaphysischer Realismus hatte die Literatur seit den 20er-Jahren umgewertet, sein Imperativ „Schreibe einen wahren Satz“ prägte die Schriftstellerei und den Journalismus bis heute. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Hemingways Erzählungen und Romane in Deutschland rezipiert, als wäre dem Elend, dem Schrecken und dem Sterben noch etwas Poesie abzugewinnen, wenn man es nur mit jener „grace under pressure“ hielt, die Hemingway dem Torero bei seinem Tötungswerk angesehen hatte.

Hemingway 1939

Ernest Hemingway, 1899 in Oak Park, Illinois geboren, war der Sohn eines Arztes und einer Mutter, die sich als Sängerin und Kulturverweserin der Gemeinde verstand, die regelmäßig Musik- und Literaturabende veranstaltete. Den kleinen Ernest kleidete sie ebenso in Mädchenkleider wie seine ein Jahr ältere Schwester Marcelline und nannte die beiden „Zwillinge“, was möglicherweise einen Nachhall hatte in den androgynen Rollenspielen des jungen Mannes mit seiner Frau Hadley, die in Paris ihre Haare „auf die gleiche Weise“ trugen: „Wühl es mal kräftig durch‘, sagte sie. ‚Warte‘, sagte ich. ‚Dann sagte sie: ‚Jetzt streich es glatt. Fühl.‘ Ich legte meine Hand an die seidige stumpfe Masse an ihrem Hals und sagte etwas Heimliches, und sie sagte: ‚Nachher.‘ – ‚Du‘, sagte ich. ‚Du.’“ Erst spät wurden der Machismo und die Prahlsucht Hemingways als neurotische Ausgeburten seiner latenten Homosexualität verstanden: Das nachgelassene Fragment „Der Garten Eden“, ein geschwätziger Dialogroman, schildert quälend die menage a trois eines Schriftstellers mit zwei knabenhaften Frauen.

Sein Vater Clarence lehrte Ernest das Jagen und das Angeln und nahm ihn mit zu Behandlungen und Entbindungen – die schmerzvollen Wehen einer Indianerin beschrieb der Sohn später in dem Meisterstück „Indianerlager“: Der Ehemann, der in der Hütte die Schreie seiner Frau nicht ertragen konnte, schnitt sich die Kehle durch. Und der Sohn des Arztes fährt über den See heim: „Am frühen Morgen auf dem See, als er im Heck des Bootes seinem rudernden Vater gegenübersaß, war er überzeugt davon, dass er niemals sterben würde.“

Als die Erzählungen 1925 in dem Band „In Our Time“ erschienen, etablierten sie einen neuen Ton in der amerikanischen Literatur; geschrieben wurden sie in Paris: Hemingway schilderte in lakonischer Knappheit und Grausamkeit Szenen aus dem Ersten Weltkrieg, dem griechisch-türkischen Krieg, den er als Reporter beobachtet hatte, und aus seinen Erfahrungen als Zeitungsschreiber für den „Kansas City Star“.

1918 hatte er sich freiwillig als Sanitäter für den Krieg in Europa gemeldet und wurde an der italienisch-österreichischen Front verwundet, kurz bevor der Waffenstillstand unterschreiben wurde. Hemingway erholte sich einem Hospital in Mailand, wo er sich in eine amerikanische Krankenschwester verliebte, die später den Roman „In einem andern Land“ (1929) inspirierte. Als dekorierter Kriegsheld kehrte er nach Oak Park heim und übertrieb seine Heldentaten und Versehrungen, ging dann nach Chicago und Toronto und heiratete 1921 die einige Jahre ältere Hadley. Mit ihr verbrachte er die Jahre in Paris, wo die amerikanische Boheme ein lockeres Leben führte, weil der Dollar während der Inflation einen so günstigen Wechselkurs hatte.

Wirre Variationen eines Vorwortes und einer Widmung, die auf den getrübten Geisteszustand des Dichters schließen lassen

1956 händigte man Hemingway, mittlerweile mit seiner vierten Frau Mary in Paris, im Hotel Ritz einen eingelagerten großen Koffer mit Aufzeichnungen aus den 20er-Jahren aus, den er mit nach New York nahm. Die Notizen inspirierten ihn zu seiner letzten Anstrengung, den Memoiren „A Moveable Feast“ („Paris – Ein Fest fürs Leben“), die er 1960 abschloss. Allerdings erschien das Buch erst 1964 in bearbeiteter Form – und erst vor zwei Jahren machte sein Enkel Séan die Urfassung publik (die jetzt in deutscher Übersetzung bei Rowohlt erschienen ist). Darin sind viele wirre Variationen eines Vorwortes und einer Widmung, die auf den getrübten Geisteszustand des Dichters schließen lassen. Unter den Titelvorschlägen waren „Good Nails Are Made Of Iron“, „To Bite On The Nail“, „To Love And Write Well“ und „It Is Different In The Ring“. Mary Hemingway und die Lektoren waren also gnädig, als sie das Konvolut damals zusammenstrichen und die peinlichsten Kapitel – etwa über den Mundgeruch des Schriftstellers und Malers Ford Madox Ford – wegließen.

Ernest Hemingway (1899-1961) in Cortina d’Ampezzo, Italien, 1950 (Photo by Apic/Getty Images)

Es blieben die selbstgerechten, im Ringen um den früheren Stil verfassten Vignetten über Gertrude Stein und Sylvia Beach, die lobenden Anmerkungen zu Ezra Pound (dem er das Boxen beibringen wollte) und die bizarren Anekdoten über F. Scott Fitzgerald, mit dem er eine beschwingte Autofahrt nach Paris unternahm und der sich als Weichling erwies, der keinen Alkohol vertragen konnte und seiner Frau Zelda hörig war. In einer anderen Episode fragt der schmale, gut aussehende Fitzgerald den Freund, ob er männlich genug gebaut sei. Hemingway sieht sich in der Toilette die Angelegenheit an und beruhigt den Dichter des „Großen Gatsby“. Den Verrat an dem toten Kollegen, dessen Werk er ambivalent beurteilt (zwei große Romane, einer hätte etwas werden können, die meisten Kurzgeschichten für den Kommerz geschrieben), verteidigte der neidische Autor mit dem „Schreiben der Wahrheit, ohne etwas wegzulassen oder hinzuzufügen“.

In den frühen Erzählungen erreichte Hemingway eine glasklare Härte und zugleich beispiellose Transzendenz

Nun war aber das Weglassen gerade das Signum und das Geheimnis seines Schreibens. Der Roman „Fiesta“, der Hemingway 1926 berühmt machte, besteht aus lakonischen Alltagsdialogen und knappen Beschreibungen von Banalitäten. In den frühen Erzählungen erreichte Hemingway eine glasklare Härte und zugleich Transzendenz, die ohne Beispiel ist: Die heute schulbuchmäßige Short Story „Ein sauberes, gut beleuchtetes Café“ handelt von der Angst vor dem Nachhausegehen, vor der ewigen Nacht; „Großer doppelherziger Strom“ ist der gewaltigste amerikanische Hymnus auf die Natur seit Walt Whitman. Nach „In unserer Zeit“ folgten die Erzählungs-Bände „Männer ohne Frauen“ (1928) und „Der Sieger geht leer aus“ (1933), die nicht mehr ganz die Kraft und die Herrlichkeit der früheren Stories haben – aber „Müde bin ich, geh zur Ruh“, „Die Killer“ und „Väter und Söhne“ sind unschlagbare Kurzgeschichten eines Autodidakten, der sich seine Theorie selbst erfunden hatte und zum Schreiben eine Hasenpfote als Glücksbringer in der Tasche trug. In „A Moveable Feast“ beschreibt Hemingway, wie er in einem kalten Zimmer den Ofen mit Reisigzweigen und ein paar Holzscheiten befeuerte und Mandarinenschalen hineinwarf – die Kälte und der Hunger beförderten sein Denken. Später kehrt er dann zu Hadley und Sohn Bumby zurück, und alle waren arm und glücklich, denn sie hatten die Bücher aus Sylvia Beachs Laden, in dem auch James Joyce verkehrte, und vor allem hatten sie einander.

1932 schrieb Hemingway das Stierkampf-Buch „Tod am Nachmittag“ und ging dann auf Großwildjagd in Afrika, woraus das weithin verspottete, halb autobiographische Heldenbuch „Die grünen Hügel Afrikas“ (1935) entstand – vor allem aber schrieb er seine besten Erzählungen: „Das kurze, glückliche Leben des Francis Macomber“, die Geschichte einer Entmannung, und „Schnee auf dem Kilimandscharo“, die Geschichte eines Sterbens, der Fiebertraum eines Mannes, der mit Wundbrand in der Savanne liegt und sich, halb schon im Wahn, Rechenschaft über sein Leben ablegt. Sieht man den kitschigen Film mit Gregory Peck von 1952, hat man leider nichts von der magischsten, hypnotischsten Prosa der amerikanischen Literatur.

Hemingway mit Fidel Castro

Ernest Hemingway wohnte jetzt mit seiner zweiten Frau Pauline, einer reichen Erbin, in Key West und auf Kuba, wurde längst „Papa“ genannt, war mit den Fischern befreundet und fuhr mit seinem hochseetüchtigen Boot aufs Meer. „Haben und Nichthaben“ (1938) war sein enttäuschender Beitrag zum New Deal, warf aber immerhin einen unsterblichen Aphorismus ab: „Ein Mann allein hat keine verdammte Chance.“ Die Kritik gab Hemingway noch eine letzte. So rüstete er für den Bürgerkrieg in Spanien, kämpfte auf Seiten der Republikaner, wirkte an dem Dokumentarfilm „The Spanish Earth“ (1938) mit und verlor 1939 mit den internationalen Brigaden gegen das Franco-Regime. 1940 erschien sein vom Krieg gespeister Roman „Wem die Stünde schlägt“, ein Sensationserfolg, drei Jahre später mit Hemingways Freund Gary Cooper verfilmt.

Im Zweiten Weltkrieg begleitete der Schriftsteller die amerikanischen Invasionstruppen in Europa und nahm – der Legende nach – 1944 das Hotel Ritz in Paris ein: Sogar den Barkeeper soll er noch gekannt und sofort Champagner bestellt haben, den die Franzosen während der deutschen Besetzung versteckt hielten. Hemingway war beinahe 50, als er sich in Venedig aussichtslos in eine 18-jährige Adelige verliebte und darüber (und über die Entenjagd) den Roman „Über den Fluss und in die Wälder“ schrieb, ein sentimentales Alterswerk, das bald parodiert wurde. 1952 aber gelang ihm die Erzählung, die in einer einzigen Ausgabe der Zeitschrift „Life“ gedruckt wurde und ihm den Pulitzer- und den Nobelpreis einbrachte: „Der alte Mann und das Meer“ ist eine Großparabel von biblischer Dimension, die nur aus einfachen Kinder- und Greisensätzen besteht und aus Einsichten wie der, dass man die Sterne nicht töten und die Sonne nicht einfangen kann. Im Kampf mit dem Schwertfisch obsiegt der alte Mann, um am Ende mit Ausnahme der Gräten alles an die Haie zu verlieren: Ein Mann kann besiegt werden, aber nicht vernichtet.

Bei zwei Flugzeugabstürzen in Afrika, kurz nacheinander, wurde Hemingway beinahe getötet und las im Lazarett schon die Nachrufe in amerikanischen Zeitungen. Das Schreiben fiel ihm schwerer; 1956 reiste er noch einmal durch Spanien; 1958 schrieb er die glanzlose Stierkampf-Reportage „Gefährlicher Sommer“ – bei den Stationen der Autoreise übers spanische Land erkannten die Menschen in dem weißbärtigen Greis den Autor von „Fiesta“ und „Wem die Stunde schlägt“ und feierten ihn spontan als Volkshelden. In den USA wurde er mit Elektroschocks gegen Depressionen behandelt und fühlte sich vom FBI verfolgt, die Angst vor Steuerschulden wuchs sich zur Paranoia aus. Seine vierte Frau Mary pflegte den maladen Mann bis zum Schluss. Viele Suizid-Versuche konnte sie verhindern – am 2. Juli 1961 aber entging Hemingway ihrer Fürsorge.

„Dann begannen sie zu steigen, und sie schienen nach Osten zu fliegen, und dann wurde es dunkel, und sie waren in einem Gewitter, und der Regen war so dicht, dass es schien, als ob man durch einen Wasserfall flog, und dann waren sie hindurch, und Compie wandte den Kopf und grinste und deutete vorwärts, und dort vor ihnen, so weit er sehen konnte, so weit wie die ganze Welt, groß, hoch und unvorstellbar weiß in der Sonne war der flache Gipfel des Kilimandscharo. Und dann wusste er, dorthin war es, wohin er ging.“

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