Fleisch für Fantasie

Manchmal ist die Langeweile schuld, manchmal auch eine tolle Idee, die sich in zwei Sätzen einfach nicht aussprechen lässt. Popmusiker sind als Geschichtenerzähler beliebt, aber sobald die Geschichten mal etwas länger als 3 Minuten 30 dauern und ein Fremdwort darin vorkommt, werden die Leute schnell misstrauisch. Und lesen lieber ein gutes Buch. „Die Vermessung der Welt“ zum Beispiel. Aber die Entwicklung war spürbar im Jahr 2006, ein neuer Trend zum Konzeptalbum, zum Progressiven, Olympischen. Vorsichtiger formuliert: Bands, bei denen die Songs so gewaltig sind wie die Haarfrisuren, gelten heute nicht mehr automatisch als uncool. Junge Leute klatschen nach dem Gitarrensolo. Die gelangweilte Hinkehr zum kurzen Höhepunkt, zur Abspieleinheit des iPod, die man so leicht aus einem künstlerischen Zusammenhang reißen kann, wie die „Süddeutsche Zeitung“ das auf ihrer CD-Reihe mit den Siegertiteln aus 50 Jahren Pop tat? Im September meldete jedenfalls der Bundesverband Informationswirtschaft, bei den Downloads sei die Zahl der komplett heruntergeladenen Alben überdeutlich gestiegen.

Die epischen Heuler von Muse, die Diddeldaddel-Jam-Afros von The Mars Volta, die Fantasy-Rollenspiel-Rocker von Wolfmother, die Todessuiten-Dichter von My Chemical Romance: An diesen beliebten Bands fällt auf, dass man sich leicht über sie lustig machen kann. Das hätte sich (fast) keiner bei Scott Walker getraut, dessen Musik freilich auf keinem Stadtplan verzeichnet ist, der aber die progressivste Anekdote lieferte:

den Schlag gegen die Schweinehälfte. Eigentlich war es sein Percussionist Alasdair Malloy, der bei den Aufnahmen für „The Drift“ mit den Fäusten auf Fleisch trommeln musste. Trotzdem wurde das zu einem der Bilder des Jahres: wie der einsame, von Visionen geplagte Dichter selbst dem toten Tier noch etwas Bedeutung abringt.

Später kam es unbemerkt zum Duell zwischen altem und neuem Konzeptalbums-Verständnis: Reste von The Who veröffentlichten eine Mini-Oper, die von einer Rockband aus Astralkörpern oder so ähnlich handelte – zeitgleich brachte die Harfesängerin Joanna Newsom einen schmetterlingslyrischen Liederzyklus zur Welt, ihre selbst erträumte Version alter Burgfräuleingedichte und Waldtänze. Es geht heute ja nicht mehr darum, zu beweisen, dass Popmusik auch Kunst sein kann. Auffällig viele Neo-Prog-Rocker sind ehemalige Punks, die dem Rock’n’Roll-Ideal – dass ein Song leicht verständlich sein soll – mehr und mehr misstrauen. Die Band Green Day wählte schon vor zwei Jahren die Form des Konzeptalbums, um den als Simpel verschrieenen Präsidenten zu bekämpfen.

Muss man deshalb auch das Gesamtwerk der Beatles zerdeppern und zu einem grenzenlosen Epos schmelzen? Sagen wir mal so: Man kann sich auch in einer russischen Zirkusuniform unter die Dusche stellen und Jo-Jo spielen.

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