Gottes Cocktail-Rezepte

In „"Die Reise nach Petuschki" erzählt der von Vielen abgöttisch verehrte Wenedikt Jerofejew von einer wodka-getränkten Bahnfahrt durch den Sowjetsozialismus. Sein deutscher Kollege Frank Schulz hält die Laudatio.

Bereuen Sie Ihr bisheriges Leben?“ Gewisse Spuren im Gesicht des Mannes legen die Frage aus dem Off durchaus nahe. Nichtsdestotrotz, sein Haar fällt, wiewohl graumeliert, mit üppigem Schwung in die Stirn, und die Augenpartie strahlt Wachheit aus. Er drückt einen verkabelten Kolben in Halsfalten hinein, die – wie dem Zuschauer jäh klar wird – keinen Kehlkopfmehr bergen. Doch das Mikrofon schnarrt nur wie ein durchgeknallter Rasierapparat und verstummt mit comichaftem „Spotz“. Frauenhände justieren daran herum. Erneut hält der Mann es an seine ramponierte Gurgel, und als er die Lippen bewegt, ertönt unter dem Betriebsgeräusch hervor nun der modulationslose Blechtenor eines schrottreifen Darth Vader: „Ich dachte schon, jetzt wäre alles vorbei.“ Und begradigt seine schiefe Fresse zu einem herzzerreißenden Galgengrinsen.

Wenedikt Jerofejew, der „Gottgleiche“ (Harry Rowohlt), zu dem Zeitpunkt um die 50. Als Paul Pawlikowskis großartiges Filmfeature „Die Todestrinker. Von Moskau nach Petuschki“ Premiere feierte (1992), war er längst nicht mehr am Leben. Die Antwort auf die Eingangsfrage aber lautet: „Nein, wieso? Es ist immer gekommen, wie’s gekommen ist. Zur Hölle damit.“

Der Verdammung entgehen wird sein Werk, ein Meisterwerk. „Er hat Unmengen getrunken“, so Gattin Galia, „aber (…) er hat dabei nie den Verstand verloren. Seine Stimme ja, vielleicht auch seine Fröhlichkeit, aber nie seinen Verstand.“ Immerhin durfte er erleben, wie „Moskvä—Petuski“ nach 20 Jahren im Untergrund doch noch erheblichen öffentlichen Widerhall erfuhr. Auf einen goldenen Tipp hin las ich erstmals zu jener Glasnost-Ära „Die Reise nach Petuschki“. Darin erzählte mir ein Ich in einem Tonfall, der die Bandbreite von biblisch bis vulgär abdeckt, wie es sich von Moskau aus auf den Schienenweg ins Titelparadies macht, wo angeblich die Vögel nicht aufhören zu singen und der Jasmin nie verblüht. 1969 verfasste der 31-jährige russische Dichter dieses von ihm so genannte Poem. Erstmals offiziell erschien es 1973 auf Russisch in Israel, in der BRD dann 1978 auf Deutsch. Diese Übersetzung von Natascha Spitz lieferte noch am 27. Januar 1998 den Wortlaut, als Robert Gernhardt, Harry Rowohlt und Joseph Bilous sie im Hamburger Literaturhaus komplett vortrugen.

Die Kapitel entsprechen den Etappen der authentischen Bahnstrecke von der Hauptstadt in das 100 Kilometer entfernte 60 ooo-verlorene-Seelen-Kaff (realiter der reinste Hohn auf eine arkadische, kommunistische oder sonstige Utopie). Die innere Textstruktur prägen (tragi)komische Episoden von Begegnungen und Beobachtungen im wodkagetränkten Sowjetsozialismus, surreale Reflektionen darauf und Halluzinationen, Nonsens- und Kabinettstückchen wie etwa der Besinnungsaufsatz über Frauen („Einerseits gefällt es mir, dass sie eine Taille haben und wir keine, das erfüllt mich, wie soll ich sagen?, mit .Zärtlichkeit‘ oder so was. Ja richtig, das erfüllt mich mit Zärtlichkeit. Aber andererseits…“), die legendäre Sammlung von Cocktail-Rezepturen (z.B. Schweinegekröse: „100 g Shiguli-Bier, 30 g Haarshampon ,Nacht auf dem kahlen Berge“, 70 g Anti-Schuppenmittel, 30 g 13-F-Kleber, 20 g Bremsflüssigkeit“) oder der geradezu platonische Dialog, mit dem etwa Goethe Schwerstalkoholismus nachgewiesen wird.

Ob Jerofejew nun Beschreibung der sowjetischen Wirklichkeit beabsichtigte, wie viele meinen, oder „alle Psychosen wider(zuspiegeln), die für Alkoholismuspatienten typisch“ seien (Jerofejews einstiger Nervenarzt), oder zu zeigen, „wie das Leben ist“ (Joseph Brodskij) – der,Faden‘, der durch jenes Erzähllabyrinth führt, ist jedenfalls blau und tampendick. Den Suff als Sujet hatte ich in dringlichstem Eigeninteresse bereits seit Bukowski auf dem Zettel, aber noch nie so beeindruckend gefunden wie in diesem Buch. (Ausnahme: Eckhard Henscheid, „Geht in Ordnung — sowieso — genau —–„.) Muss man erfahrener Trinker sein, um Jerofejew zu schätzen? Nein. Aber vielleicht hat man das entscheidende Promille mehr Gespür dafür, die ungeheure, ungeheuerliche Tiefe seiner Poesie bis an den Grund auszuloten. „Jeder weiß-jeder, der einmal besinnungslos in einem Treppenhaus gelandet und im Morgengrauen aus ihm hinausgetreten ist, -jeder weiß, welche Last im Herzen ich über diese vierzig Stuten eines fremden Treppenhauses hinunter und welche Last ich an die Luft hinausgetragen habe.“ O ja.

Wer nicht, kennt wohl auch nicht den täglichen Wechsel von extremer Unruhe und extremer Erleichterung, herrlichem Rausch und hündischem Katzenjammer. Kennt die trinkerspezifische Sicht auf die Welt nicht (in flagranti: kindlich-kindisch, zutiefst befriedigend etc.; hinterher: zutiefst lähmend, lebensmüde etc.). Versteht die absurde Tapferkeit nicht, die Trinker für ihre Passion aufwenden. In „Aufzeichnungen eines Psychopathen“ beschreibt Jerofejew — umständlich, aber für einen 18-Jährigen ganz klarsichtig —- einen „Typ von Menschen (…), die bewußt dem Glück davonlaufen und sich selbst zu Leiden verurteilen, Menschen, denen der Gedanke, daß nur ihr bewußtes Tun sie zu Leidenden gemacht hat und daß sie glücklich wären, wenn sie sich nicht selbst vorsorglich des Glücks beraubt hätten, fast physischen Genuß bereitet“. Das Zitat entstammt einem recht avantgardistischen Dialog; ob es auf Trinker gemünzt ist, bleibt offen. Wenn nicht masochistisch. so reagiert der trinkende Erzähler in der „Reise“ jedenfalls auf den wildesten Wahn- und nichtigsten Unsinn mit derselben intensiven Empfindsamkeit wie auf das zementenste Realitätsphänomen. Sprich: mit Humor. Der Fähigkeit, auch in der groteskesten Tragik noch Komik nicht nur zu erkennen, sondern deren schwindelnde Tiefe zu rekonstruieren.

Jawohl, wiederum: Tiefe. Insofern fragwürdig, was Peter Urban im Nachwort zu seiner Neuübersetzung von 2005 behauptet: Die deutsche Geschichte von Jerofejews Werk habe 1978 mit einem „Missverständnis“ begonnen, sei es doch als ein urkomisches Buch wahrgenommen „worden — „mit anderen Worten: (…) allenfalls an der Oberfläche“. Komik als oberflächlich zu bezeichnen ist oberflächlich.

Der in Urbans Fassung enthaltene 77-seitige Kommentar ist teils interessant, teils überspannt. Ob die puristische Transliteration („Erofeev“ statt „Jerofejew“ usw.) einer höheren Werktreue dient, sei hier nicht erörtert, weil für ein Hörbuch eh gleichgültig. Dem Hörer mag sogar egal sein, ob von „Schweinegekröse“ (Spitz) oder „Hundekaldaune“ (Urban) die Rede ist, von „Hosenscheißer“ (S.) oder „Schwulem“ (U.). Andererseits: Ist das Haarshampoo „Nacht auf dem kahlen Berge“ (S.) nicht sogar lustiger als im Original „Sadko, der reiche Gast“ (U.)? Hat aber nicht wiederum Rowohlt Recht, wenn er den Cocktail „Träne der Komsomolzin“ (U.) der „Komsomolzenträne“ (S.) vorzieht? „Wen schert’s, wenn so ein verschwitzter FDJler flennt, aber wenn eine betrübte junge Pionierin in Tränen ausbricht – das möchte man doch auf Flaschen zieh’n!“

Korrekt. Trotzdem ist das auf der Spitz-Fassung beruhende „Talking Book“ eine Perle der Gattung. Wenngleich das Gelächter des Publikums wie vereinzelt klingt. Liegt vermutlich am seinerzeitigen Arrangement der Mikrofone. Mich selbst etwa vermag ich nicht herauszuhören, dabei saß ich mittendrin im Saal des Hamburger Literaturhauses! Und habe ihn als an jenem Januarabend rappelvoll in Erinnerung.

Doch hat dieser intim anmutende Resonanzraum auch seine Vorzüge. Meint man nicht geradezu beredtes Schmunzeln zu hören? Oder zu erlauschen, wie sich Stirnen vor lauter inteligiblem Mitgefühl in Falten legen? Das ist der Vortragslaune des Rezitatorentrios zu danken. Harry Rowohlt zieht diverse Register seines Könnens (allein der „Kretin“ aus den Etappen via Chrapunowo!), ein springlebendiger Robert Gernhardt hält seine schöne, passende Nonchalance locker durch (nur zweimal gerät ihm ein Lachreiz in die Quere). Der Schauspieler Josef Bilous allerdings chargiert für meinen Geschmack anfangs noch zu sehr.

Da die drei nicht auf Rollen festgelegt sind, sondern sich kapitelweise abwechseln, kommt der Hörer in den Genuss, Vergleiche ziehen zu können (etwa bei einer Figur, der Rowohlt einen astreinen baltischen Akzent verleiht, den wiederum Gernhardt lässig adaptiert – Ehrensache für den gebürtigen Revaler -, wohingegen Bilous‘ Baltendeutsch eher ans Österreichische gemahnt).

Selbst wer jeweils Pause hat, trägt zu der Atmosphäre bei: So kommt Gernhardt phasenweise aus dem Kichern gar nicht wieder heraus, und unverkennbar sind Rowohlts tiefe Seufzer aus seelischem Nachvollzug oder purem Vergnügen. Anhand des Feuerzeugschnappens kann sogar, wer will, die gerauchten Gauloises mitzählen.

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