Neunte Kunst

„Grenzenlos“: Sex, Drugs und tiefe Traurigkeit

Nach der preisgekrönten Graphic Novel „Sommer am See“ hat Jillian Tamaki - diesmal ohne ihre Cousine - einen Band mit Kurzgeschichten herausgebracht. Er erzählt von den Schwierigkeiten, erwachsen zu werden, einem Spiegel-Facebook-Ich und einer geheimnisvollen Musik-Sex-Droge.

Kurz gesagt: Das Leben ist scheiße mit Pickeln. Schlimmer noch ist, wenn die Haut auch noch mit 20 einfach nicht gehorchen will, selbst dann nicht, wenn sie mit Creme dazu aufgefordert wird. Die Zeichnerin Jillian Tamaki erzählt in ihrem neuen Comic-Band „Grenzenlos“ (Reprodukt) Geschichten aus dem Glutofen des Erwachsenwerdens. Eine Zeit, die sich freilich bis weit in die 30er hineinverlagert und neben Hautunreinheiten noch ganz andere Probleme zu Tage treten lässt.

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Die in Brooklyn lebende Illustratorin, die regelmäßig für den „New Yorker“ und die „New York Times“ arbeitet, wurde einem großen Publikum mit dem zauberhaften Comic-Roman „Ein Sommer am See“ bekannt, der so ziemlich jeden Preis gewann, den es für solche Ausnahmewerke gibt. Hier hatte sie, wie auch schon beim Vorgänger „Skim“, mit ihrer Cousine Mariko Tamaki, Filmemacherin und Autorin, zusammengearbeitet.

Coming Of Age

Das große Thema in diesen Geschichten voller poetischer Einfälle und flirrender Melancholie ist das langsame Zerfallen der Jugend und die zunächst unsinnig anmutende Verpflichtung, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben. Dabei geht es den Tamakis vor allem um die Biographien junger Mädchen, die sich mit den Möglichkeiten weiblicher Emazipation erst einmal vorsichtig anzufreunden versuchen. Falsche Entscheidungen nicht ausgeschlossen.

„Grenzenlos“, von Jillian Tamaki diesmal im Alleingang geschrieben und gezeichnet, ist eine Kurzgeschichtensammlung, die mit jeder Story einen ganz eigenen Stil einführt. Manchmal will man gar nicht glauben, dass es sich bei ihnen um ein und die selbe Künstlerin handelt. Das erinnert frappierend an „Eindringlinge“ von Adrian Tomine, nur dass es Tamaki um ganz andere Arten von Eindringlingen geht.

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Die wirken zuweilen wie aus einem Horrorfilm kopiert: Eine Frau entdeckt, dass es von ihr ein seltsames Spiegel-Ich auf Facebook gibt und spioniert ihr hinterher; im Internet kursiert ein merkwürdiges Musikstück, das eine Frequenz enthält, die nur von Jugendlichen gehört werden kann (und sie ziemlich scharf aufeinander macht); ein Streifen namens Body Pods fasziniert Tausende von Menschen – und macht Schlagzeilen, weil die Hauptdarsteller auf erschreckende Art zu Tode kommen.

Eigentlich erwachsen

Doch Tamaki geht es nicht um das Spektakel und eine geschlossene Geschichte. All die Comics, die sich in „Grenzenlos“ finden, entwickeln ihren Sog vor allem daraus, dass sie wie Charakter-Miniaturen funktionieren, die der Biographie der geschilderten Lebewesen mit starken Bildern Ausdruck verleihen. Das mag zuweilen banal anmuten (wenn Stadt-Tiere ihren Gedanken nachhängen) oder weist einen verwirrenden Spagat zwischen Erzähltem und Gezeigtem auf (so z.B. wenn eine junge Mutter von ihrem Job als Hautreinigungsmittel-Verkäuferin berichtet).

Aber zugleich weiten sich die einzelnen Teile zu einem großen, wundersamen Ganzen, das natürlich auch eine Bestandsaufnahme der Gefühlswelt der Millenial-Generation ist, die nun zwischen 20 und 35 Jahren alt ist. Und eigentlich erwachsen werden wollte.

Im Interview mit ROLLING STONE erzählt Jillian Tamaki, was sie für „Grenzenlos“ inspiriert hat und wie sie zu Sozialen Netzwerken steht (deren Einfluss auf die Welt junger Menschen sie indirekt und direkt in ihrem Buch thematisiert).

Alle Ihre Geschichten haben einen anderen Zeichenstil. War das vor der Arbeit geplant oder entstand es spontan während der Arbeit? Sind die Kurzgeschichten fortlaufend oder spontan entstanden?

Die Kurzgeschichten entstanden im Laufe der Zeit. Die früheste ist von 2010. Die einzelnen Werke variieren je nach Stimmung und Geschichte.

Eine Geschichte (Body Pods) handelt von einem Film, der für junge Leute sehr wichtig ist. Wie kommen Sie darauf? Hatten Sie ein bestimmtes Vorbild für den Film vor Augen, oder die Schauspieler, die tragischerweise sterben?

Wir alle können bestimmte Blockbuster nennen, die von der Popkultur in die kollektive Psyche übergehen. Das ursprüngliche Werk ist nur ein Ausgangspunkt. Fan-Leidenschaften können einfach sehr intensiv sein.

Die Haut-Geschichte scheint mir auch eine Reflexion darüber zu sein, wie Frauen mit Arbeit und Familie umgehen. Gibt es für Sie da eine echte Kompatibilität?

Diese Geschichte dreht sich nur oberflächlich um Haut. Es geht darum, in einer modernen Wirtschaftswelt zu leben. Über die Dinge, die wir tun, um Sicherheit für unsere Familien zu schaffen.

Sind Sie eine Kritikerin sozialer Netzwerke? Was bedeutet Twitter, Facebook und Co. für Sie als Künstlerin?

Ich bin hoffnungslos verliebt in das Chatten im Internet. Ich bin empfinde die Sozialen Medien genauso problematisch wie die Art, wie manche Fußgänger Gehwege benutzen.

Ich denke, Ihre Kurzgeschichten erwecken auch den Eindruck, dass viele Jugendliche einfach zu viel nachdenken über sich. Oder geht es auch darum, was in den Kopf des Teenagers gepflanzt wird?

Ich weiß nicht, was das perfekte Maß für die eigenen Gedanken ist. Ich will mir nicht wirklich ein Urteil über die moderne Psyche erlauben, versuche nur sie zu untersuchen.

Wie schwierig ist es, im Comic Liebe und Sex darzustellen? Was ist mit all den Klischees?

Es ist schwierig, weil all diese Dinge Verwundbarkeit mit sich bringen. Und sind von Natur aus sehr klischeehaft. Deshalb klingen Popsongs so großartig, wenn man verliebt ist oder sich gerade getrennt hat. Die meisten meiner Bücher sind für Jugendliche gewesen, also ist es wirklich sehr erfrischend, Geschichten so zu erzählen, dass sie Sexualität mit einschließen.

Die Melancholie und das Unheimliche in Ihrem neuen Buch erinnern mich an Daniel Clowes und vor allem an Adrian Tomine.

Ich habe Comics vor allem als kleines Kind gelesen, aber dann irgenwann gestoppt. So Sachen wie Archie, etc. Als ich wieder anfing, Comics in der Kunstschule zu lesen, waren es Sachen wie Clowes, Tomine, Julie Doucet, die Hanuka-Brüder, Chester Brown, Michel Rabagliati und noch einige mehr.

Die Kurzgeschichte „Sexcoven“ handelt von einer Art Musikdroge, die junge Leute dazu bringt, Sex zu haben. Die Teenager, die das System benutzen, scheinen jedoch nicht glücklich zu sein. Sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Haben Sie Mitleid mit Ihren Charakteren?

Nein. Die Musik lässt sie sich einfach mehr mit dem Universum verbinden, und Sex ist nur ein Element davon. Wer würde das nicht wollen?

Jillian Tamaki ist Anfang Oktober auch auf Lesetour in Berlin und Hamburg.

  • Mittwoch, 4. Oktober | 19 Uhr
    Bibliothek am Luisenbad, Travemünder Str. 2, D-13357 Berlin
    Moderation: Thomas Hummitzsch
    Eintritt frei

Vernissage und offizielle Eröffnung des Hamburger Comicfestivals

Ausstellung Jillian Tamaki “Boundless”
MOM art space, Valentinskamp 34a, D-20355 Hamburg
Eintritt frei

  • Freitag, 6. Oktober | 19 Uhr
    Lesung und Gespräch mit Jillian Tamaki
    Seminarraum der Fabrique, Valentinskamp 34a, D-20355 Hamburg
    Eintritt frei

Öffnungszeiten der Ausstellung
Samstag, 7. Oktober | 11-18 Uhr
Sonntag, 8. Oktober | 12-18 Uhr
Samstag, 7. Oktober | 19 Uhr


Der Autor dieser Zeilen ist noch immer ganz bezaubert von „Ein Sommer am See“. Für ihn eine der schönsten Graphic-Novels der vergangenen Jahre. Aber er findet vor allem auch Jillian Tamakis Illustrationen für den „New Yorker“ fantastisch.


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Reprodukt / Jillian Tamaki
Reprodukt / Jillian Tamaki
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