Krankenbett im Weltall – Sogar als Patient im Hospital entdeckte Jason Pierce alias Spintualized faszinierende Geräusche, die er für seine neue Space-Symphonie nutzbar machen konnte

Schon als Kind wurde Jason Pierce von seinen Freunden „Spaceman“ genannt. Weil der blasse Junge wie ein introvertierter Alien wirkte, den es aus biologischen Gründen nach Rugby in die Grafschaft Warwickshire verschlagen hatte. Während andere auf dem Fußballplatz die Blutgrätsche übten, hörte Jason Spaceman über Kopfhörer die verschrobene Kunst-Psychedelik von Mayo Thompsons Red Crayola. Mit Peter „Sonic Boom“ Kember und einem Typen namens Bassman baute der noch minderjährige Astronaut ab 1982 an einem Raumschiff, das vielleicht nicht fliegen konnte, aber dennoch in schwindelerregende Klangwelten vordrang: „Take Me To The Other Side“, oder „Ecstasy Symphony“ hießen die mal hingebungsvoll flüsternden, mal im Feedback badenden Drone-Songs, die Spaceman 3 zu einer Ikone des Noise-Pop machten.

Seit 18 Jahren ist Spiritualized der enorm kreative Nachfolger dieser stilbildenden Band, die Drogen-Metaphern sind seitdem ein wenig in den Hintergrund getreten. Musikalisch ist Gospel ein wichtiges Element, neben den immer präsenten Stooges und dem spirituellen freien Jazz der Siebziger. „Songs In A &“ E“ heißt das neue, sechste Album der Band, die offiziell ein Quintett ist, das auf der Bühne durch Gospelsängerinnen verstärkt wird. In Wirklichkeit entscheidet aber nur einer über Musik, Texte und die erlesenen Verpackungen: Jason Pierce, dessen Stimme am Telefon so sanft und klug klingt wie die eines besorgten Arztes. Was vielleicht auch daran liegt, dass der Musiker im Juni 2005 viele Wochen im Royal London Hospital zugebracht hat. Eine beidseitige Lungenentzündung verschlimmerte sich zu einem lebensbedrohlichen Zustand, weil die Bakterien nicht auf Antibiotika ansprachen. Glücklicherweise hat Pierce überlebt, aber sein Zustand war lange Zeit bemitleidenswert.

Die Veröffentlichung von „Songs In A&E“ sollte deshalb noch drei Jahre dauern obwohl fast alle Songs schon existierten. Sie entstanden auf einer 1929 gebauten Gibson Gitarre, die Pierce in einem Laden in Cincinnati entdeckte: „Es ist nicht so, dass die Songs mit der Gitarre gekommen wären. Bemerkenswert ist allein die Tatsache, dass sie überhaupt auf einer Gitarre entstanden sind. Normalerweise singe ich Song-Ideen direkt in ein Aufnahmegerät. Doch auf dieser alten Gibson zu spielen war etwas Besonderes, so als würde man einen Kontakt zu einer anderen Zeit herstellen: Wer hat wohl auf diesem Instrument gespielt, und was waren das für Songs, die darauf entstanden?‘, grübelt Pierce, bis ihm der wabernde Nebel der Rock-Mythologie ein wenig zu dicht wird. „Letztlich sind solche Dinge aber unbedeutend, nichts als kleine Fußnoten. Das Einzige, was durch die Zeit reist, ist die Musik selbst. Man hört Musik nicht wie ein Historiker. Wenn Iggy mit den Stooges ,Search And Destroy‘ intoniert, geht es ja scheinbar um Vietnam. Aber was habe ich mit Vietnam zu tun — ich wurde in einer Kleinstadt mitten in England geboren. Ich suche in Musik eine Verbindung zu meiner Existenz und meinen Lebensumständen. Wenn Ray Charles ,I Can’t Stop Lovin You‘ singt, fragt kein Mensch danach, wer die Person ist.“

Jason Pierce weiß natürlich, dass Iggys Aufschrei ein viel weiter gehendes Unbehagen artikulierte, und auch er träumt von einer Musik, die alles abdeckt, was ihm lieb und heilig ist – von George Mitchells alten Field Recordings bis zu den Pop-Symphonien Phil Spectors. Und wer den gerade erschienenen, angenehm verspulten Soundtrack zu Harmony Korines Film „Mister Lonely“ hört, den Pierce als J. Spaceman zur Hälfte eingespielt hat (die andere Hälfte stammt von den Sun City Girls), spürt die vielfältige Geschlossenheit dieses musikalischen Werks, in dem es immer um Pierce geht und seine Suche nach Erlösung.

,A & E“ ist die Abkürzung für „Accident & Emergency“. Und tatsächlich profitiert der großorchestrale, bis auf wenige verzerrte Gitarrenspuren akustische Sound von „Songs In A & E“ von einer beruhigend erbaulichen Sanatoriums-Atmosphäre: „Die Musik hat eine Low-Level-Energie, wie man sie oft in Krankenhäusern findet. Eine Stimmung, die jedes aufkommende Gefühl von Panik sofort mit einerwunderbaren Ruhe umhüllt“, erklärt Pierce und schwärmt von den sanft blinkenden und piepsenden Maschinen, die sein Krankenbett umgaben: „Diese Atmosphäre war wirklich wunderschön. Als ich aus dem Hospital kam, hatte ich die Idee, das zu beschreiben, diese Geräusche in eine Symphonie zu packen. Die Songs existierten bereits, aber all das, worin sie eingeseift sind, kam danach.“

Und wie auf jedem Spiritualized-Album flüstern auch auf „Songs In A & E“ in den Texten wieder die Engel, und der Herr wird gepriesen – auch wenn der Gospel-Einfluss diesmal deutlich geringer ausfällt. Da möchte man natürlich schon gerne wissen: Glaubt Jason Pierce eigentlich an Gott? „Kein bisschen!“ Wirklich nicht? „Das ist nur eine vererbte Wahrheit. Ich kann lediglich Fragen stellen — die Wahrheit liegt in der Musik. Es ist schwer, vor einem Gospel-Chor zu stehen und nicht bewegt zu sein.“ Und das kann man auch über das neue Meisterwerk von Spiritualized sagen. Oder, wie der Spaceman singt: „I got a hurricane in my veins / And I wanna stay forever.“

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates