Mutiger Blindflug

Nach ihrem erfolgreichen, aber seichten ersten Album haben Keane, noch immer ohne Gitarre, weniger Harmonie gewagt

Dass die Music Bank Studios im Londoner Tower Bridge Business Complex nur schwer zu finden sind, hat einen guten Grund: Hinter den unscheinbaren Fassaden und rostigen Eisentüren bereiten sich Bands mit Erfolg und größerem Budget auf anstehende Tourneen vor und wollen ungestört bleiben. Kaum drinnen in den weitläufigen Fabrikräumen, stolpert man über das Equipment von Alice Cooper, irgendwo weiter hinten übt angeblich Robbie Williams. Die Raconteurs kämen morgen, munkelt eine Empfangsdame, von denen man mehrere passieren muss, und nebenan lärmen Squeeze sehr alte Lieder. Rock’n’Roll Headquarters! Man fühlt sich ein bisschen eingeweiht. Auch Keane sind hier, gleich drei Wochen lang, und bereiten ihre neuen Lieder für die Bühne vor. Das ist ein bisschen schwierig, weil Keane weiterhin weder einen Bassisten noch einen Gitarristen, dafür aber unendlich viele Sounds auf „Under The Iron Sea“ eingesetzt haben, die jetzt mit Händen, Füßen und Sequenzern zu Live-Versionen umgesetzt werden müssen. Neben der Band sind zwei, drei Live-Techniker ständig im Raum und programmieren Playbacks, löten Effektgeräte und mischen die Musik, bis sie nicht mehr widerspenstig ist. „Sicher ist die Versuchung groß, einfach ein paar Musiker dazu zu stellen, gibt Tim Rice-Oxley zu, „aber viel größer ist die Gefahr, damit unsere Chemie zu verlieren. Dann lieber ein bisschen Musik vom Band.“ Was erwartet man nun von Keane und ihrem zweiten Album? Das Debüt „Hopes And Fears“ mit seinem Eighties-Pop und drei, vier sehr anrührenden Songs war eine schöne Überraschung, die man gern einreihte bei den anderen UK-Bands desselben Lebensgefühls. Aber „Hopes And Fears“ war auch naiv, ein Bubikopf, aus dem nichts ganz Großes wird. Und so mussten Keane sich also einen mutigen Schritt vornehmen, keine Reprise, sondern einen Umsturz in eigener Sache. Dafür braucht man Mut! Und natürlich Musik, mit der sich so etwas anfangen lässt. „Ich kann schwer begreifen, warum einige Bands mit ihrem zweiten Album plötzlich nur zwölf käsige Midtempo-Lovesongs aufnehmen“, ist Trommler Richard Hughes etwas verächtlich, „wir orientieren uns an den großen englischen Indie-Bands der letzten 30 Jahre, die sich immer neu erfunden haben. Dieses Album verweist auf die Zukunft, nicht auf die Vergangenheit.“

Als es das Album schließlich zu hören gibt, im abgedunkelten, mit Räucherstäbchen deodorierten Probestudio, sitzen Keane geschlossen dabei, sichtbar aufgeregt und gespannt, das eigene Werk mit den Ohren eines anderen zu hören. „Under The Iron Sea“ ist ein monumentales, oft düsteres Werk geworden, das auf die wonnigen Harmonien des Erstlings weitestgehend verzichtet und stattdessen Radioheadartige Dramaturgien und abenteuerliche Texturen verwendet. Ohne Gitarre, wie gesagt, auch wenn man das manchmal kaum glauben kann – Rice-Oxley setzt sich mit extrem vielen und überraschend unkonventionellen Klängen ein Keyboarder-Denkmal und schafft ein ungewöhnliches, ungemein einprägsames Szenario. „Wir haben erst spät gemerkt, in welche Richtung diese Platte gehen würde“, erläutert Rice-Oxley, „das Dunkle, Klaustrophobische und Bedrückende – wir haben es wohl irgendwie gehört, und wir wussten, dass wir uns weit hinauswagen wollten. Aber was genau es sein würde, war doch lange unklar. Ein bisschen wie ein Blindflug ohne Koordinaten.“

Der Blindflug: Auch Keane mussten durch eine schwere Zeit, haben sich ob der endlosen Tourneen auseinandergelebt, furchtbar zerkracht und sogar vorübergehend praktisch aufgelöst. Hier wird ja nicht nur Musikerkumpanei, sondern lebenslange Sandkastenfreundschaft verhandelt. „Ich bin mir nicht mehr sicher, ob diese Bruderschaft dieselbe bleiben wird – wir stecken schon noch drin in diesem Umbruch“, erklärt Sänger Tom Chaplin, „aber ich frage mich deshalb nicht: Will ich das alles noch? Vielmehr ist es so: Es ist meine unbedingte Pflicht, diese Lieder zu singen. Ich kann nicht einfach weggehen.“

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