Livekritik: Benjamin von Stuckrad-Barre – Berlin Babylon 2023

Erste Lesung von Benjamin von Stuckrad-Barre, der mit Spannung erwartete Event: ausverkauftes Haus, vibrierende Stimmung und eine lange Schlange am Autogrammtisch.

Vorab ein Check beim zentralen Großbuchhändler „Dussmann“ an der Friedrichstraße. Stapelweise druckfrische Ausgaben von „Noch wach?“, bestens platziert auf einem „Kauf-mich “-Tisch im Eingangsbereich. Manch einer nimmt gleich zwei der in Folie eingewickelten Exemplare. Doch insgesamt ist von Fan-Hysterie keine Spur. Leben geht weiter. Und erst mal abwarten, was an dem ganzen Hype der letzten Woche wirklich dran ist. 25 Euro sind auch Geld.

Pünktlich zur „Tagesschau“ um 20 Uhr dann den Gong zur Lese-Show von Benjamin von Stuckrad-Barre im seit langem  ausverkauften „Theater am Schiffbauerdamm“. Ein feierlicher Bühnenbau, home of „Berliner Ensemble “. Draußen vor der Tür grüßt ein bronzener Bertolt Brecht die durch hässliche Regenschauer vorbeieilenden Gäste. Sein Publikum ist mit ihm älter geworden. Mehr Erwachsene als Erasmus-Studenten. Und kaum jemand hat es für nötig gehalten, sich aufzubrezeln. Come as you are!

Nach kurzem Musik-Mix aus Miau-Klassik und Disco-Beats springt der Autor in bekannter Action-Jackson-Manier auf die Bühne. Ringelshirt, helle Hose, Designer-Sneaker. Er habe sich „als Stucki verkleidet“, sagt er später. Daher habe er auf den sonst üblichen enganliegenden Streichholzbein-Anzug verzichtet. BvSB ist weiterhin rank und schlank wie sein Verlagskollege  Nick Cave.

Benjamin von Stuckrad-Barre +++ dpa-Bildfunk +++

„Bin scheiße aufgeregt“, entfährt es ihm zum Intro. Er will gleich loslesen, aber das ist nur ein Trick. Er reißt Witze darüber, dass er noch nicht ganz kommod mit dem eigenen Lesestoff sei. „ABER in Ingolstadt wird’s dann wirklich gut!“ „Ingolstadt“ und später „Augsburg“ werden zu dramaturgisch clever eingestreuselten Running Gags.

Stuckrad-Barre liefert an diesem Abend die eigene Rezeption vielfach mit. Er haut wiederholt Feuilleton-Lingo wie „Vexierspiel“ oder „Figuren-Verschränkungen“ raus, um den zahlreich anwesenden Kritikern und Kritikerinnen Erklärmodelle für seinen Stoff vorzuportionieren. Er trinkt Wasser und raucht wie ein Schlot. Er erzählt, dass der „Intendant“ ihm erlaubt habe, aus „dramaturgischen Gründen“ auf der Bühne zu rauchen. Er fordert Nikotin-Opfer im Publikum auf, es ihm gleichzutun und neben ihm eine zu quarzen. Aber, wie er witzelt: „Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen.“ Sein „Lieblingsschild“. Alle lachen. Keiner traut sich ins Rampenlicht.

Stuckrad-Barre ist bewusst, dass er seinen Hauptstadt-Stoff in die Fläche bringen muss; trotz „Spiegel“-Story und Dauererregung auf dem Medienplanet. Augsburg und Ingolstadt sind entscheidend, um aus einem eitlen Berlin-Babylon-2023-Stoff auch einen Bestseller zu machen. Da die wirklichen Auflagen in den aktuellen Belletristik-Charts in diesem Frühjahr nicht wirklich hoch sind, ist davon auszugehen, dass sich BvSB in der nächsten Woche mindestens auf einer Top-Five-Platzierung wiederfindet. Und dann kommt ja die Tour durch die mittelgroßen Hallen, wo sonst die Donots oder Fischer-Z spielen.

Das kann er. Wie kein anderer. Das hat er zigfach bewiesen. „Ich mach das jetzt seit 25 Jahren.“ Bei all dem Bedeutungsballast, der wochenlang die Veröffentlichung von „Noch wach?“ begleitet hat, wirkt Stuckrad-Barre bemerkenswert souverän und heiter. Manche „Stop-&-Go“-Passagen zwischen Lesung und Spontan-Kommentaren kommen wie beim „Cologne Comedy Festival“, bekanntlich das „Wacken“ der Profi-Spaßmacher.

Die Auftaktlesung von Benjamin von Stuckrad-Barre hat das tonnenschwere Dach abgesprengt, das auf diesem Gesellschaftsroman gelastet hat

Seine Lesung ist ein „Parforceritt“ durch das neue Opus. Durch „Kontextualisierung“ kann sich der Zuhörer (m/w/d) seine Montage zwischen dem Chateau Marmont am Sunset Strip in Los Angeles (hier: als Flucht aus dem fünf Monate andauernden Berliner November) und einer Berliner Privat-TV-Anstalt LIVE zusammendenken. In der grauen deutschen Hauptstadt wiederum kommt seine Protagonistin Sophia mit „dem Chefredakteur“ in Berührung.

Die Auftaktlesung von Benjamin von Stuckrad-Barre hat das tonnenschwere Dach abgesprengt, das auf diesem Gesellschaftsroman gelastet hat. Seinerzeit ist „Stucki“ mit Regisseur Helmut Dietl an der preußischen Neuauflage von „Kir Royal“ gescheitert. Sein „Noch wach?“-Sujet schreit gradezu nach Verfilmung. In der Hoffnung, dass das niemand versaut. Vielleicht sollte BvSB mal bei Frauke Finsterwalder anklopfen. Möglicherweise längst geschehen. Eine Bühnenfassung ist in Hamburg bereits angekündigt.

Im Dialog mit sich selbst geht BvSB auch auf die möglichen rechtlichen und unmittelbaren Gefahren seines „Enthüllungsstoffes“ ein.

Er hört auf mit dem Vorlesen und fragt in die dicht besetzten Reihen, ob eine „Lisa“ in the house sei. Ein klar und deutliches „JA“ kommt postwendend aus dem Dunkel zurück. Die Stimme gehört der Schauspielerin Lisa Maria Potthoff („Sarah Kohr“ oder Eberhofer-Filme wie „Leberkäsjunkie“), die den israelischen Militär-Extrem-Kampfsport Krav Maga beherrscht.

Nur ein spontaner Mini-Einwurf von BvSB, doch gleichzeitig ein hoch amüsanter Insider-Joke mit Auf-die-Zwölf-Charakter, der wiederum den Bedeutungsdruck ins Reich der Groteske zerfallen lässt. Auch Schriftstellerkollege Rainald Goetz hat zu Beginn der Zehnerjahre einen „Manager-Roman“ geschrieben. In der dritten Auflage der Suhrkamp-Hardcover-Version von „Johann Holtrop“ steht im Vortext zu lesen:

„Natürlich basiert dieser Roman auf der Realität des Lebens auch wirklicher Menschen. Aber es ist ein Roman, Fiktion, fiktiv in jeder Figur; alles hier Erzählte auch: Werk der Literatur.“

Der Ritt im „BE“ ist für die meisten Gäste noch ein Blindflug durch ein komplexes Personentableau

Benjamin von Stuckrad-Barre

Auch wenn das an Ex-Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff angelehnte Goetz-Opus deutlich düsterer und dystopischer geraten ist; auch bei Stuckrad-Barre ist selbst das „Haupthaus“ in einer superlustigen Baustellen-Begehungs-Szene nur ein Chiffre für den Wahnsinn der modernen Arbeitswelt. „NEW WORK“ verwechselt BvSB gut gelaunt mit „NEW YORK“ und Buzzwords aus der der digitalen Zukunft wie „performativ“ dreht er vielfach durch den Fleischwolf. „Was macht die OLD WORK eigentlich?“ fragt er und schildert eine Bauarbeiter-Pause mit Mega-Bouletten und Cola aus der 1,5-Liter-Flasche. Im modernen Fußball würde man das „Umschaltspiel auf höchstem Niveau“ nennen.

Die BvSB-Show läuft durch ohne Pause und auch die „Zugabe“ muss sich niemand erklatschen. Den donnernden Applaus gibt’s ganz zum Schluss. Wenn er dann wirklich in „Ingolstadt“ und „Augsburg“ auf den dortigen Brettern steht, dürfte der „Noch wach?“-Inhalt schon vielfach durchgelesen sein. Und die Fans kennen dann die entsprechenden Stellen. Der Ritt im „BE“ ist für die meisten Gäste noch ein Blindflug durch ein komplexes Personentableau. Dass die Berliner Sause (wo selbst der VIP-Auftritt beim Aftershow-Rumstehen mit Weißweinschorle angenehm unspektakulär und bewusst NICHT „aufgeregt“ vonstatten gegangen ist) bereits auf Anhieb (fast) ausschließlich „shiny happy people“ in die finstere Mitte-Nacht entlassen hat, ist schon mal eine megakrasse superduper Anfangsleistung. Im Anschluss eine endlose Schlange am Autogrammtisch. Selbstredend Selfies galore.

„Ingolstadt“ kann kommen!

Hannes P. Albert picture alliance/dpa
Hannes P. Albert picture alliance/dpa
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