Parole Brandi: Wenn die Mutter vorsagt und die Hochzeit nie aufhört

Nach der Aufführung einer inklusiven Theatergruppe sieht unsere Kolumnistin „Romeo und Julia“ mit anderen Augen

Gestern habe ich eine tolle Erfahrung gemacht. Und von tollen Erfahrungen, die ich mache, sollt ihr, liebe Lesende, bitte auch was haben. Also here we go:

Meine Mutter arbeitet seit einem Jahr oder so als Soufflage am Dortmunder Theater. Wie es dazu kam und was das für unsere Familie bedeutet, wäre eine eigene Kolumne, ach was sag ich, ein eigenes Buch wert. Aber an dieser Stelle spare ich das alles mal ein und komme zum Punkt: Seitdem lädt sie mich immer wieder ein, mir Stücke anzugucken, bei denen sie souffliert.

Nach einer intensiven, zehnwöchigen „Romeo und Julia“-Produktion als Theatermusikerin in Augsburg hatte ich eigentlich die Nase gründlich voll von Montagues und Capulets. Aber wie es der Zufall wollte, wurde genau dieser Stoff am Dortmunder Schauspielhaus parallel geprobt und kommt seit ein paar Wochen dort regelmäßig zur Aufführung.

In Dortmund allerdings mit einer Besonderheit. „Romeo und Julia“ wurde von der inklusiven Theatergruppe i can be your translator inszeniert, bei der unter anderem Menschen mit Behinderung mitmachen. Zum Beispiel die Regisseurin Linda Fiehsan, von der meine Mutter schnell heftig schwärmte.

Keinen Bock

Wie es so ist für uns Menschen, die normalerweise nur ins Theater gehen, um dort ihr Geld zu verdienen, sind meine Synapsen mittlerweile so verschaltet, dass sie in der Nähe eines Schauspielhauses „Achtung! Arbeit!“ in mein zentrales Nervensystem senden und nicht etwa „Ach, herrlich – Kultur!“ oder sowas. Dementsprechend langzähnig machte ich mich auf den Weg durch die verregnete Dortmunder Innenstadt.

Übrigens: Erinnert ihr euch, dass, wie auch immer gut eine Idee sein mag, sobald eure Mutter sie hat, setzt eben diese seltsame Langzähnigkeit ein, dieser ganz spezifische Kinder-Widerstand, ihr könnt gar nichts dagegen tun? Eigentlich richtig peinlich für eine Frau in meinem Alter, aber ich muss es zugeben, auch das war gestern dabei. Kurzum: Ich hatte keinen Bock.

Im kleinen Studio des Dortmunder Schauspielhauses nahm das Publikum leise murmelnd Platz, dann wurde es dunkel. Zu Anfang wurde auf einem lustig zerstückelten Monitor von einer der Darstellerinnen eine Ansage gemacht, dass dies eine „relaxed performance, also eine entspannte Darstellung“ sei und wir gerne lachen, uns bewegen oder Geräusche machen dürften, sogar rausgehen sei erlaubt, der Ausgang sei daaaa… (Aufgefangen wurden ihre Worte dann durch Lichtzeichen, die den entsprechenden Ausgang kurz anleuchteten)

Immer wieder Hochzeit

Und dann ging das Stück damit los, dass die Regisseurin, bekleidet mit einem wunderschönen Tutu und Springerstiefeln, den berühmten Anfangsmonolog von „Romeo und Julia“ vorlas.

Das ganze Konzept des Stücks, so wurde uns Zuschauenden irgendwann klar, beruhte auf dem Unmut der Regisseurin, die mit bestimmten Stellen der Grausamkeit nicht einverstanden war und diese darum kurzerhand veränderte, kürzte, strich. Und das alles vor unser aller Augen.

So lautet denn auch der vollständige Titel der Performance: „Hurra, Romeo und Julia! Die Szene mit der Leiche, die habe ich gelöscht“.

Statt den Fokus auf die Grausamkeiten in Shakespeares Stück zu legen, wird zum Beispiel die Hochzeitsszene unendlich oft wiederholt. Jedes Mal spielt ein anderes Kollektivmitglied Romeo oder Julia, jedes Mal, nachdem ein anderer Priester gelesen hat „…möge eure Liebe den Hass der beiden Häuser in Frieden verwandeln…“, ruft die Regisseurin in ein Mikrofon „Uuuund nochmal!“, der Schleier wird an die nächste Julia weitergegeben, Romeos Jacke wird getauscht und die ganze Zeremonie beginnt von Neuem.

Nach dem vierten Mal wurde das Publikum dann unruhig, wie ein Publikum immer unruhig wird, wenn nach einer dritten Wiederholung nicht Schluss ist.

Die Macht der Liebe

Die magische Drei scheint in unserer Kultur so fest verankert zu sein, dass wir mehr Wiederholungen von etwas nicht zulassen wollen, beim vierten Mal nimmt unser Gehirn sofort an, das hört jetzt nie wieder auf, und wir trudeln in unerträglicher Ungewissheit im freien Fall durch unsere innere Unruhe. Oder wie man auf Neudeutsch sagen würde: Eine spontane „anxiety“ stellt sich ein.

Doch dann passierte etwas wirklich Tolles.

Durch mein träges, innerliches Mit-meinem-eigenen-Scheiß-verbaut-Sein kämpfte sich diese fremde Zeittaktung hindurch und fing an, mich zu erfassen. Dass die Hochzeit hier immer und immer wieder wiederholt wurde, begann mich zu ergreifen. Und dass die Darsteller:innen dauernd wechselten, tat sein Übriges. Ich erwachte zwangsläufig in einer neuen Aufmerksamkeit, wodurch sich mir körperlich einzuschreiben begann, wie stark die vielzitierte „Macht der Liebe“ ist. Wie eine Spieluhr drehte sich das Hochzeits- und Liebes-Mantra mich hinein.

Das Glänzen in den Augen von Romeo wechselte wie das Wetter je nach Darsteller:in, die Amme weinte mal komisch, mal ergreifend von der Seite, und immer wieder erklang dieser Text, dass die Liebe den Hass besiegen würde und naja, irgendwann hatten sie mich einfach am Haken.

Jetzt – Herzinfarkt!

Ich begann nach dieser Sequenz, der Inszenierung rückhaltlos zu vertrauen. Ein Vorgang, den ich selten bei nicht-inklusiven Inszenierungen in mir beobachtet habe. Ich ließ mich auf diese mir unvertraute Zeitrechnung ein und musste laut lachen, als die Regisseurin Julias Vater nach dessen (im Shakespear‘schen Original wirklich grausamer) Schimpftirade kurzerhand lautstark zurecht wies und mit einem Knicks die Anweisung gab: „Und jetzt – Herzinfarkt!“ und ihn einfach sterben ließ.

Dazu erklang übrigens Musik, die von fast allen Ensemble-Mitgliedern auf Geigen, einem Cello, einem Bandoneon und einer Tuba gespielt wurde. Und nennt mich verrückt, aber das war eines der besten Musikerlebnisse seit langem.

Keiner beherrschte offensichtlich sein Instrument virtuos, aber alle bauten eine wirklich dichte Atmosphäre von unten langsam auf, sich stetig steigernd, auf einem oder mehr ihnen zugewiesenen Tönen, dass das Crescendo am Ende wirklich unter die Haut ging.

Ich kann euch jetzt hier nicht das gesamte Stück verraten, aber es gab noch ein paar tolle Überraschungen. Und immer wieder holte mich die Inszenierung so gekonnt, so lustig und so selbstbewusst aus meiner Komfortzone heraus, dass ich auf dem ganzen verregneten Heimweg durch die hupenden Fußballfans grinsen musste und richtig froh war, auf meine Mutter gehört zu haben.

Hurra!

 

 

 

 

 

 

 

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