Paul Simon: Später Sieg des Bitteren

Durch Vampire Weekend wurde Paul Simon zum meistzitierten Musiker der Saison. In Stuttgart gab er eine Kostprobe seiner ungetrübten Meisterschaft

Stuttgart, Pariser Platz: Wenn sie hinterher auf dem Heimweg an den Hochglanzfronten des Bankenviertels vorbeischlendern, werden sie von dieser erstaunlich temperamentvollen Band schwärmen. Von der Mixtur aus exotischen Rhythmen und vertrauten Melodien, die dem Pariser Platz endlich Leben einhauchten – dem Platz, der künftig das Herz des Prestige-Projekts „Stuttgart 21“ sein soll, bisher aber nur einen Fluchtpunkt für Krawattenträger im Nirgendwo darstellt. Sie werden die Spielfreude loben, mit der Paul Simon Songs wie „Late In The Evening“ rauschhaft inszeniert hat. Und sie werden den kleinen Mann, der mit zu großem blauen Hemd und Hut wie eine abgemagerte Version von Danny DeVito aussieht, dafür feiern, dass er dem Stuttgarter Jazz Open ein echtes Highlight beschert hat.

Tatsächlich ist es erstaunlich, wie sich Paul Simon einmal mehr als Vordenker der popmusikalischen Weltmusik-Neigung (und damit als Vater von Hipster-Bands wie den White Rabbits und Vampire Weekend) erweist, wie er sich seine Rhythmen – und seine sieben Begleitmusiker – überall auf der Welt zusammenklaubt. Diese furiose Band, in der sich vor allem der Kameruner Gitarrist Vincent Nguini spektakulär feinnervig in den Vordergrund spielt, fährt wie ein Wirbelwind durch Calypso („Diamonds On The Soles Of Her Shoes“) und Cajun („The Boy In The Bubble“), durch afrikanische Polyrhythmik (natürlich „Graceland“) und Funk („Outrageous“).

Dennoch ist es nicht der vergnügt groovende Paul Simon aus „You Can Call Me Al“, der heute am meisten überzeugt, sondern jener, der Vergangenheitsbewältigung betreibt, indem er sich gegen die (scheinbare) Leichtigkeit der großen Hits von Simon & Garfunkel wehrt und deren Harmoniebedürfnis einer sperrigen Empfindlichkeit opfert.

Das erste Mal passiert das bei „Mrs. Robinson“, das einem zunächst wie eine „Wake Up, Little Susie“-Variante vorkommt. Es dauert, bis Simon aut der Akustikgitarre den prägnanten Riff rausrückt und die Dramatik steigert. Doch statt sich nun vom Rhythmus treiben zu lassen, singt er gegen den Groove an, bremst ihn aus, stemmt sich mit seinem störrischen Rezitativ gegen die Musik und tilgt alles Euphorische aus dem Stück. All die Bitterkeit und der Sarkasmus, die hier schon immer lauerten, treten ungeschützt hervor.

Noch verstörender gerät die Neuinterpretation von „The Sound Of Silence“: Ganz allein steht er auf der Bühne, verlagert die Melodieseligkeit des Songs in ein großartiges Gitarrenarrangement, um – sich dynamischen Sprüngen verweigernd – mit einer erschreckenden Nüchternheit in der Stimme die Dunkelheit und die Stille zu begrüßen.

Im Zugabenblock, den der 66-Jährige mit dem unvermeidlichen „Still Crazy After All These Years“ einleitet, merken sogar jene, die solche Open-Air-Veranstaltungen als kulinarische Spektakel begreifen, dass sich die heutige Version von „The Boxer“ kaum zum Mitklatschen eignet, sondern sich in diesem so vertraut anmutenden Folkpop-Singalong bislang von einer melancholischen Süße überdeckte Abgründe auftun. Alle, die beim Nachhauseweg noch nicht lautstark vom Konzert schwärmen, brauchen bloß noch Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten.

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