Pirat und Gentleman

Die Hälfte seiner Autobiographie war geschrieben, als John Peel starb. Seine Witwe ergänzte die fehlenden Jahre mithilfe von Tagebüchern.

Die Kathedrale von Bury St. Edmunds bot nur dem kleineren Teil der Trauernden Platz, die gekommen waren, um John Peel die letzte Ehre zu erweisen. Die wenigsten von ihnen waren ihm je persönlich begegnet, doch sie alle glaubten ihn gut zu kennen. Die unzähligen Betroffenheitsbekundungen und Kondolenzschreiben, die nach Peels plötzlichem Ableben Ende Oktober 2004 bei der BBC und bei seiner Familie eintrafen, belegen das. Diese lakonische Stimme aus dem Radio, das wußten Generationen wacher Hörer rund um den Globus, gehörte einem Mann mit musikalischem Gewissen, einem Dissidenten, einem Freund.

Peel wurde dafür geschätzt, was er spielte. Die neuen, noch nicht verstandenen Töne, und uralte, längst vergessene Aufnahmen. Und zwischen die Hypermonotonie eines siebenminütigen House-Tracks aus Chicago und einen knapp zweiminütigen Hillbilly-Heuler von Charlie Feathers fügte er Platten ein, die noch den aufmerksamsten Hörer überforderten und fremdeln ließen. Balalaika-Cluster kurdischer Hirten-Ensembles, mongolische Kehlkopf-Akrobaten, Bahnhofskapellen aus Zimbabwe. Weird stuff. „Was Peelie spielte“, so urteilte DJ-Kollege Andy Kershaw, „war überwiegend Radio-untaugliches Zeug, mit dem kein anderer durchgekommen wäre.“

Doch Peel wurde dafür geliebt, wie er Radio machte. Ohne Allüren oder snobistischen Unterton, obsessiv und unbestechlich, den Bullshit-Detektor stets in Betrieb. John Peel verabscheute Pomp, haßte Personenkult, nicht zuletzt den um seine Person. Er war auch kein religiöser Mensch. Im Gegenteil. Der kindliche Glauben Erwachsener, – wie er ihm etwa auf Schritt und Tritt in Texas begegnet war, machte ihn schaudern. Dennoch hätten ihn die Andacht in der Kathedrale und die auch nach draußen übertragenen Gedenkreden gewiß zu Tränen gerührt. Peel hatte, wie es so schön heißt, nah am Wasser gebaut. Bereits eine Episode der TV-Schnulzette „Unsere kleine Farm“ reichte manchmal aus, ihm die Augen zu netzen. „Unter seiner Schale aus Sarkasmus und Selbstironie war John butterweich“, erfahren wir von seiner Witwe Sheila, „vor allem, wenn es um die Kinder und Belange der Familie ging.“ Nachzulesen in John Peel – Margrave Of The Marshes“, einer Biographie, die in zwei Hälften zerfallt, deren erste noch von John selbst bewältigt worden war und die Anfang der 60er Jahre in Texas endet, mit dem Verlust seiner Unschuld. Den zweiten Teil schrieb Sheila mit Hilfe der vier gemeinsamen Kinder, auf Fakten und Anekdoten rekurrierend, die John über Jahre in Tagebüchern festgehalten hatte. Dennoch kein leichtes Unterfangen, wie Sheila einräumt, „aber wir waren es John schuldig, sein Buch fertigzustellen“.

Ein Manuskript, das bereits einen publizistischen Parcourslauf mit Hindernissen zu bestehen hatte. Zwar war sich Peel des ideellen Wertes seiner Erinnerungen bewußt, doch veranschlagte er die Verkäuflichkeit derselben als „ähnlich begrenzt wie die der Musik, die ich aufzulegen pflege“. Die Briefe, die er 1992 an seine Agentin schrieb über eventuell berichtenswerte Vorfälle in seinem Leben, sind im Tonfall mokant und pendeln zwischen Ernst und Exzentrik. „Meeting Lightnin‘ Hopkins and Memphis Slim, seeing Jimmy Reed“, vermeldet Peel in dieser Steno-Chronik, dann „meeting with demented man who claimed to be not one but all of the Small Faces“. Die Exposes wurden mit dem Arbeitstitel „Recollections Of An English Gentleman“ herumgereicht, und es geschah, was Peel erwartet hatte: nichts. Entsprechend ungläubig fiel sein Staunen aus, als ihm fast zehn Jahre später eine Offerte über einskommafünf Millionen Pfund unterbreitet wurde. Ein exorbitanter Vorschuß, „second only to Beckham“, wie Peel fassungslos, indes nicht ohne Stolz registrierte. Er strich ein paar Radio-Verpflichtungen, nahm sich Zeit zum Schreiben. Kurz bevor er mit Sheila zu einem Urlaub nach Peru aufbrach, von dem er nicht zurückkehren sollte, verschwanden 15 000 Wörter, die er seinem Computer anvertraut hatte, im virtuellen Orkus. Ein herber Rückschlag, den Peel mit Achselzucken kommentierte. Es würde nun eben ein wenig länger dauern.

Leider nicht, die Lebensgeschichte aus erster Hand, die am Tag vor Ausbruch des 2.Weltkriegs begonnen hatte, endet etwas abrupt an der Türschwelle eines texanischen Bordells. Bis dahin lernt man John als Sproß aus gutem Hause kennen, ohne Vaterbindung, im Internat von älteren Schülern sexuell malträtiert, der zum Erlernen des Baumwollhandels nach Texas geschickt wird, wo er seine Liebe zur Musik entdeckt und zum Radiomachen, wo er Kennedy, Nixon und Johnson begegnet, als Trittbrettfahrer der Beatlemania reüssiert, eine 15jährige heiratet und das Leben zu genießen trachtet.

Was nicht zuletzt daran scheitert, daß John ein allzeit skeptischer, auch zu Selbstzweifeln neigender, schüchterner junger Mann ist. Nicht die Sorte, die es im Lone Star State zu etwas bringen kann. Peel, der noch seinen bürgerlichen Namen John Ravenscroft trägt, kehrt zurück nach England und heuert auf einem Schiff an: dem Piratensender Radio London.

Inzwischen hat Sheila den Faden aufgenommen, unmerklich fast, denn ihr narrativer Flow lebt vom selben Sprachduktus, ist geprägt vom selben trockenen Humor. Beginnend vom Untergang der Piraten und den Anfängen der BBC-Popwelle Radio 1, zeichnet sie Johns Werdegang als Broadcaster nach, als Label-Eigner und Produzent ohne Fortune, als Entdecker hunderter obskurer Bands, die er seinen Hörern ans Herz legte, bis sie nicht mehr obskur waren, von Pink Floyd über Roxy Music und den Smiths bis zu den White Stripes. Peels Freundschaft mit Captain Beefheart, sein Zerwürfnis mit Marc Bolan, sein Faible für The Fall: Nicht alles wird enträtselt, aber vieles erklärt. Verklärt wird nichts. Peel war kein Pfau, Selbstinszenierung war ihm fremd. In diesem Geiste sind die letzten 200 Seiten verfaßt. Ein einziger Liebesbrief, der weder Johns menschliche Schwächen wie gelegentliche Zornausbrüche unter den Teppich kehrt noch seine musikalischen verschweigt (pssst: Peel hörte zuweilen Status Quo, freiwillig). Natürlich gab es auch Neider, denen es nicht ins Karriere-Konzept paßte, daß Peel bei der BBC Narrenfreiheit genoß. Und nicht wenige Künstler, die der DJ nicht ausstehen konnte. Bemerkenswert mithin, daß kein böses Wort fällt. Okay, Sting sei „tiresome“, steht irgendwo, aber das ist die hohe Schule der Diplomatie. Nicht einmal Tony Blackburn, gescheitelter Pop-Tory und lange Jahre Peels erklärter Gegner und DJ-Antipode bei Radio 1, kommt hier schlecht weg.

Als roter Faden dieser Lebensbeschreibung fungieren freilich die „Reds“. Zum Liverpool FC hielt John Peel in unverbrüchlicher Treue bis zu seinem Tod. Und darüber hinaus. Als Liverpool neulich beim Champions-League-Finale zur Halbzeit gegen den AC Mailand 0:3 zurücklag und schon alles entschieden schien, riefen Sheila und die Kinder, deren zweite Vornamen Anfield, Anfield, Shankly und Daiglish lauten, John im Himmel an.

Und siehe, er erhörte sie. Liverpool kam wie verwandelt aus der Kabine, schoß drei Tore in sechs Minuten und holte den Cup. Dank Steven Gerrard? Das vielleicht auch.

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