Requiem für eine linke Ikone

In seiner Text-Montage "Der Freund und der Fremde" umkreist Uwe Timm Leben und Mythos von Benno Ohnesorg

„Es ist etwas anderes, ob ich das Krähen nachahme oder Kikeriki sage“, zitierte Benno Ohnesorg den Anarchisten Gustav Landauer – sinnigerweise in einem „Essay über die fragmentarische Form“, einem der wenigen überlieferten Texte von ihm. Uwe Timm hat gute – nämlich poetologische – Gründe, in „Der Freund und der Fremde“ (Kiepenheuer & Witsch, 16,90 Euro), seinen fragmentarischen Erinnerungen an Benno Ohnesorg, darauf einzugehen: Der Aphorismus legitimiert indirekt seine Methode. Wenn nämlich Sprache nicht mal das Krähen eines Hahnes adäquat beschreiben kann, wie soll das dann erst mit so etwas Hochkomplexem, Widersprüchlichem und Unwägbarem wie dem menschlichen Charakter funktionieren? Gar nicht, oder doch jedenfalls nur annäherungsweise. Deshalb kommt jeder auch noch so scherbenhaften Reminiszenz besondere Bedeutung zu. Weil nun einer geschlosseneren Form zwangsläufig einiges an engrammatischer Spreu zu opfern wäre, wählt Timm die Montage, die formbewußt, aber eben auch möglichst unmittelbar und vollständig Erinnerungsbruchstücke aneinanderfügt.

„Die Erinnerung ist ja selbst nie chronologisch“, ergänzt Timm im Gespräch. „Wenn wir uns erinnern, dann ist das immer nach Bedeutungsinseln strukturiert, nach Kristallisationspunkten, und insofern bildet dieses Montage-Prinzip den Prozeß des Erinnerns ab. Der erste Ansatz findet sich übrigens schon in ‚Morenga‘, einem Roman über die deutsche Kolonialherrschaft, auch da ist diese Technik schon entwickelt, und auch in den ‚Römischen Aufzeichnungen‘.

Das war dann so ergiebig, daß ich damit auch auf adäquate Weise über Benno Ohnesorg schreiben konnte. Eigentlich ist das Buch wie eine Fuge gebaut, ich habe sehr viel Bach gehört, schon beim Schreiben von ,Am Beispiel meines Bruders‘, aber auch hier wieder. Es ist ein Requiem, wenn man so will.“

Und wie schon in seinem grandiosen Vorgängerbuch, das seinen kaum gekannten, früh verstorbenen Bruder gewidmet ist, der in der Waffen-SS Dienst tat, läßt er eine zeitgeschichtlich exemplarische Gestalt wiederauferstehen – da den Nazi-Mitläufer, hier die linke Ikone.

Mit dem Tode Benno Ohnesorgs, der am 2.Juni 1967 während der Demonstration gegen den Schah-Besuch von dem Zivilfahnder Karl-Heinz Kurras hinterrücks erschossen wurde, hatte der bundesrepublikanische Staat endgültig sein faschistisches Erbe offengelegt. Die Nazi-Eliten, die Fränkels und Globkes und Duensings etc., fraßen sich einen Wirtschaftswunderbauch an und blieben überdies dieselben autoritären Quadratschädel. Das war der Sündenfall in der Konstitutionsphase der Bundesrepublik: Man hat diese alten Braunnacken nicht zu frühpensionierten Kleingärtnern gemacht, sondern glaubte, auf sie als Staatssekretäre, Generalbundesanwälte, Polizeipräsidenten, Richter nicht verzichten zu können. Es gab Proteste gegen diese Kontinuitäten, aber erst der Tod Ohnesorgs und die anschließende Verdunklungskampagne, die mit dem skandalösen Freispruch von Kurras endete, sorgte dann für das nötige emotionale Feuer, das die Studentenrevolte so richtig entfachte. „Es hätte jeder sein können! Und das, glaube ich, haben viele ganz genauso empfunden. Hier zeigte sich eben, wie unglaublich autoritär und brutal der Staat damals reagiert hat. Ein Polizeipräsident, der sein Vorgehen mit dem Anstechen einer Leberwurst vergleicht, nachdem diese Strategie ein Todesopfer gefordert hat.“

Der eher apolitische, künstlerisch hochinteressierte und sanfte Christ Ohnesorg wurde politisch instrumentalisiert, zum APO-Heros umgewidmet – und das hat Uwe Timm, der damals auch mit von der Partie war und in dem Roman „Heißer Sommer“ schon einmal eine empathische, entsprechend viel diskutierte Innenansicht der Studentenrevolte geliefert hat, mehrmals scheitern lassen bei dem Versuch, seinem Freund ein belletristisches Denkmal zu setzen. Auch er wurde mitgerissen von der naheliegenden Wut und ließ hinter dem „Fall Ohnesorg“ die Person verschwinden.

Ich frage ihn, was sich nun verändert habe, mal abgesehen davon, daß viel Zeit vergangen sei. Er lacht. „Nun, die ist ja nicht ganz unwesentlich. Eine gewisse, auch zeitliche Distanz, das sage ich Ihnen jetzt mal als älterer Mensch, ist unbedingt nötig, um über bestimmte Dinge schreiben zu können. Die Versuche, die ich ja immer wieder gemacht habe, scheiterten eigentlich alle daran, daß ich immer schnell in eine moralische Empörung, die ja auch zu Recht besteht, hineingeraten bin. Und die hat ja nicht nachgelassen. Es ist nur etwas hinzugekommen, ein anderer Zugang in der Sprache und in der Form.“

Uwe Timm überwindet seine Sprachnot, indem er sich selbst hineinschreibt in diese Totenklage. Und nicht nur sich, sondern auch die Schulfreunde auf dem ßraunschweig Kolleg, wo Ohnesorg und Timm auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur nachholen, die Stimmungen der Zeit, die gemeinsamen Orte, die Lektüren. So vereinigt dieses brillante Buch einen autobiographischen Rechenschaftsbericht, kluge mentalitäts- und kulturgeschichtliche Exkurse, eine warmherzige und facettenreiche, noch gestische und mimische Eigenheiten Ohnesorgs vergegenwärtige Porträtskizze und nicht zuletzt einen nachgetragenen, elegischen Freundschaftsbeweis.

Und wo Erinnerung, Imagination und Reflexion nicht weiterkommen, setzt die Reportage an. Timm besucht etwa Friederike Hausmann, jenen „Engel“ in Abendkleid auf dem bekannten Foto, der dem Sterbenden den Kopf hält, und läßt sie den Tag des Geschehens rekapitulieren. Und er verbringt einen traurigen Nachmittag bei Lukas Ohnesorg, dem Sohn, der seinen Vater nie erlebt hat, ihm in seinen Gesten trotzdem so verblüffend ähnlich ist und dessen Leben von den Schatten der Vergangenheit verdunkelt wird. Sogar bei Kurras steht er vor der angeblich stahlverstärkten Haustür, macht dann aber doch auf dem Absatz kehrt, weil er die Antworten schon kennt.

Wann weiß man als Autor, daß so ein heterogener Text fertig ist? „Das ist eine ganz entscheidende Frage. Eine solche offene Form vermittelt natürlich den Eindruck, daß so etwas ad infinitum möglich ist, aber eigentümlicherweise ist es nicht so. Es gibt einen Punkt, an dem ich das Gefühl habe, daß alles weitere nur noch additiv dazukäme und nicht mehr strukturell eingebunden wäre. Ich habe sehr viel weggeworfen, viele Stücke, von denen ich glaubte, daß sie nichts Wesentliches mehr beisteuern.“

Daß hier die offene Form jedenfalls nicht mangelndem Integrationsvermögen geschuldet ist, beweist die feinsinnige Vernetzung des heterogenen Materials über Leitmotive, Reprisen und Refrains. Man kann sie schon wieder hören, die Wichtigheimer des Feuilletons: Jetzt müßte er aber mal wieder einen richtigen Roman schreiben.“ Von mir aus müßte er nicht.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates