Der Anschlag :: von Paul Harding

Tinkers ***¿

Der greise George Washington Crosby, der in einfachen Verhältnissen aufwuchs und früher gerne Uhren reparierte, lässt auf dem Totenbett sein Leben Revue passieren. Während seine Zeit unbarmherzig abläuft, gedenkt er vor allem seines Vaters, des titelgebenden Kesselflickers Howard, der ehemals mit dem Maultierkarren durch Maine zog. Das Geld, das dieser als fahrender Händler verdient, reicht hinten und vorne nicht. Noch dazu wird Howard von epileptischen Anfällen heimgesucht. Als ihm die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Heilanstalt droht, verlässt er die Familie – seinen Sohn George jedoch verliert er nie aus den Augen.

„Tinkers“, der postmodern angelegte Debütroman des 1967 in Wenham, Massachusetts, geborenen Autors und Musikers Paul Harding – er war Schlagzeuger der Grunge-Rocker Cold Water Flat – war in den USA ein Überraschungserfolg. Etliche Verlage lehnten das Manuskript ab, erst Jahre später erschien der schmale Band bei einem Kleinverlag in einer Startauflage von 3.500 Stück. 2010 wurde Harding dann für seinen melancholischen literarischen Erstling mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Er handelt auf poetische Weise vom Vergehen der Zeit und vom Abschiednehmen, von Erinnerung, Liebe und Tod. Diese ewig großen Themen der Menschheit packt Harding in eine vollkommen unaufgeregte, von kunstvollen Perspektiv- und Zeitwechseln geprägte Prosa, die den Leser alsbald in ihren Bann zieht. (Luchterhand, 19,99 Euro) Alexander Müller

Bluescreen ***¿

von Mark Greif

Mark Greif, einer der Gründungsherausgeber der New Yorker Kulturzeitschrift n+1, leidet erkennbar unter der totalen Ästhetisierung unserer Leben, die seiner Ansicht nach inzwischen dramatische Züge angenommen hat. In seiner Essay-Sammlung „Bluescreen“ macht er sich unter anderem originelle Gedanken über die sogenannten Sexkinder, die Realität des Reality-TV, die Ära des Designs, medial vermittelte Erfahrungen und eine Umverteilung des Reichtums. Seine analytische Ideologie-, Gesellschafts- und Kulturkritik verbindet er auf unterhaltsame Weise mit persönlichen Anekdoten und erzählerischen Abschweifungen.

Besonders lesenswert ist in dieser Hinsicht sein womöglich von David Foster Wallaces „Signifying Rappers“ inspirierter Aufsatz zum Thema „Rappen lernen“, in dem Greif von den Schwierigkeiten berichtet, die er als mit Postpunk aufgewachsener, weißer, politisierter Mittelklasse-Amerikaner damit hatte, sich mit HipHop und Rap zu identifizieren. Während er rückblickend die Musik von Bands wie Dinosaur Jr., Hüsker Dü oder Fugazi als historische Sackgasse bezeichnet, tut er sich beim CNN der Schwarzen schwer mit dem Materialismus-Problem, dem Geld-Fetischismus, der unverhohlenen Lust an guns, bitches and bling. Rap wird in seinen Ohren gleichwohl zu einer „wirklich kapitalistischen Musikrichtung, die auch heute noch mehr über die Gegenwart zu sagen hat als andere Kunstformen.“ Nach der Lektüre von „Bluescreen“ sieht man eben viele Dinge anders. (Suhrkamp, 15 Euro) Alexander Müller

Emily, allein **¿

von Stewart O’Nan

Ein fast 400 Seiten langer Roman über eine alte Witwe, die sich in der Mitte des Buches ein Hybridauto kauft (so viel darf man verraten!), aber sonst fast nichts macht – das klingt so grauenhaft, dass es in Wirklichkeit nicht mal halb so schlimm sein kann, und das ist es auch nicht. Deluxe-Vielschreiber Stewart O’Nan, bekannt geworden mit Neunziger-typischen Spektakelgeschichten, hat sich zuletzt ja intensiv und in Zeitlupe mit den alltäglichen Handgriffen der einfachen Leute Amerikas befasst, der Hummer-Restaurantbetreiber, der Sträflings-Ehefrauen.

Die Familie der aktuellen Protagonistin kam schon 2002 in „Abschied von Chautauqua“ vor, jetzt sitzt die mittlerweile fast 80-Jährige zu Hause in Pittsburgh. Fühlt, wie Farbe und Kraft aus ihrem Leben weichen, beobachtet mit Adleraugen, wie sie trotz bürgerlicher Einbindung immer mehr an den Gesellschaftsrand segelt (oder gesegelt wird). Und hält anhand von Wochenplan, Kulturkalender und Jahreszeiten trotzdem ein würdiges Dasein aufrecht, saugt Lebensbejahung aus Van-Gogh-Bildern, tadelt Obama als Leichtgewicht.

Man kann wenig sagen gegen ein so fast aufdringlich sympathisches Buch, das einen beim Lesen mühelos in den literarischen Letzte-Fragen-Modus bringt. Die Gefahr, Minimalist O’Nan könne zu salbungsvoll werden, besteht sowieso nicht – aber während seine letzten großen Introversionen immer noch Dynamik in sich trugen, ist die Senioren-Selbstbeobachtung für einen Roman dieses Umfangs einfach zu flach. Wäre, wie so oft, eine großartige 180-Seiten-Erzählung geworden.

(Rowohlt, 19,95 Euro) Joachim Hentschel

von Stephen King

„Dallas ist Derry. Derry ist Dallas.“ Jacob „Jake“ Epping, der Ich-Erzähler des neuen Stephen Kings „Der Anschlag“, flüstert diese nur für Nichtkenner verwirrenden Sätze nach einem Albtraum – irgendwann in den Jahren zwischen 1958 und 1963. Wer mit dem Werk des immer wieder gerne als Schmökerlieferanten gedissten Horrorkönigs vertraut ist, und zudem den Originaltitel des in den USA bereits von der Kritik gepriesenen Romans kennt – „11/22/63“ -, ahnt schon, dass es hier um die Verschränkung zweier Brutstätten des Teufels geht. Derry ist nämlich die Heimat des namenlosen Bösen aus „Es“. In Dallas starb am 22. November 1963 John F. Kennedy durch die Kugel von Lee Harvey Oswald (seine Schuld nehmen wir jetzt mal der Einfachheit halber an) – und genau das will Jake, der durch ein Loch in der Zeit ins Jahr 1958 zurückreisen kann, verhindern.

Aber Jake ist kein Held, er ist ein normaler Amerikaner, ein passionierter Englischlehrer an einer HighSchool in New England, der selbst nicht recht weiß und wissen kann, ob das, was er vorhat, das Richtige ist. Und er merkt schnell: „Die Geschichte will nicht geändert werden.“ Ausgehend von einer nur anfangs fantastisch anmutenden Idee, legt King hier sein vielleicht politischstes Buch vor, das jedoch in jeder Zeile persönlich und nachvollziehbar bleibt, was vor allem der starken Stimme des Jake zu verdanken ist, die erstaunliche Parallelen zum realen King aufweist. Auch „Der Anschlag“ wird natürlich wieder als Topseller im Bahnhofsbuchhandel auftauchen – doch der neue King ist mehr als gute Unterhaltung für Zugfahrten, der neue King ist große Literatur. (Heyne, 26,99 Euro) Daniel Koch

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