Die Jagd :: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larson
Der Film beginnt mit einer Jagd, und er endet mit einer Jagd. Die Sonne strahlt golden zwischen Baumwipfeln auf verfärbtes Laub, man sieht Wild im Gegenlicht und Männer in grünen Joppen mit Gewehren im Anschlag. Viele Schüsse fallen nicht. Ich erinnere mich an zwei. Einer streckt zu Beginn einen Hirsch nieder, der zweite kommt ganz am Schluss. Die wahre Jagd findet jedoch dazwischen statt.
Thomas Vinterberg führt uns in seinem neuen Film in eine Kleinstadt in der dänischen Provinz; eine eingeschworene Gemeinschaft, die von Trinkgelagen, Ritualen und Männerbündelei zusammengehalten wird. Der Lehrer Lucas (Mads Mikkelsen) rappelt sich nach einer Midlife Crisis, die in Scheidung und Arbeitslosigkeit ihre Höhepunkte fand, gerade wieder auf. Er hat einen neuen Job im Kindergarten und ist im Begriff, sich in die hübsche Putzhilfe Nadja (Alexandra Rapaport) zu verlieben. Zudem buhlt Klara (Annika Wedderkopp), die kleine Tochter seines besten Freundes Theo (Thomas Bo Larson), um seine Aufmerksamkeit. Als er ein Geschenk von ihr zurückweist, denkt sich das trotzige Mädchen eine Geschichte aus, deren Folgen sie nicht absehen kann. Ihr pubertierender Bruder hat ihr kurz zuvor im Internet das Bild einer Erektion gezeigt, das ihre Fantasie nun in Gang setzt. Sie deutet der Kindergartenleiterin Grethe (Susse Wold) an, Lucas habe sich vor ihr entblößt.
Man kann sich denken, was nun folgt. Ein Psychologe tritt auf. Kinder werden nach Kopfschmerzen und Albträumen befragt und bei positivem Befund ebenfalls zu Lucas‘ Opfern gerechnet. Und sie erzählen bereitwillig, wie er sie in den (nicht vorhandenen) Keller seines Hauses gelockt hat. Die kleine Klara ahnt, was ihre Fantasie angerichtet hat, doch in ihrem Widerruf erkennen die Eltern eine Verdrängung des traumatischen Erlebnisses. Die Dorfgemeinschaft macht Lucas das Leben zur Hölle, einzig sein bei der Mutter lebender Sohn und sein Bruder stehen ihm bei.
Mads Mikkelsen ist im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes für seine Verkörperung des Lucas wohl zu Recht mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet worden. Er spielt den Leidensmann subtil, mit bewundernswerter Zurückhaltung. Der Schock über die Anschuldigungen ist ihm ins Gesicht geschrieben, seine Körpersprache wirkt unsicher und gehemmt. Hier drückt sich Lucas‘ Dilemma aus: Er kann die Untersuchungen der Polizei und die Empörung seines Umfelds lange Zeit nur widerstandslos über sich ergehen lassen, denn sie sind nur folgerichtig. Die alarmierte Kindergartenleiterin, die besorgten Eltern, die sich verraten fühlenden Freunde -alle handeln so, wie man es auch von ihnen erwartet. Es gibt keine Täter in diesem Film; jeder ist Opfer. Das Böse, so hat Vinterberg in Interviews erklärt, komme in „Die Jagd“, wie in einem Märchen von Hans Christian Andersen, von außen.
Hinter dieser Geschichte eines Unschuldigen stehen ex negativo die vielen ungesühnten Fälle von Kindsmisshandlung und die Art und Weise, wie eine ohnmächtige Gesellschaft nach Wegen sucht, damit umzugehen. Auch in dieser Hinsicht ist „Die Jagd“ ein Kontrapunkt zu Vinterbergs gefeiertem internationalen Debüt „Das Fest“ von 1998. Dort brachte ein in seiner Kindheit missbrauchter Sohn aus großbürgerlichen Verhältnissen gegen den Widerstand des pädophilen Patriarchen und seiner ignoranten Verwandtschaft die Wahrheit ans Licht. Vinterberg inszenierte diese Geschichte damals im schmucklosen Dogma-Stil mit unruhiger, fast dokumentarischer Handkamera. Lucas‘ Kampf gegen die Macht einer Kinderfantasie setzt er mit Kamerafrau Charlotte Bruus Christensen in warmen, pittoresken Bildern tatsächlich wie ein modernes Märchen um.
Zum großen Showdown kommt es am Heiligen Abend in der Messe. Der ausgestoßene und geschlagene Lucas sitzt allein in seiner Bank, inmitten der Gemeinschaft, und lauscht der Frohen Botschaft aus den unschuldigen Kehlen des Kindergartenchors. Man muss wohl nicht von ungefähr an Ingmar Bergmans letztes Meisterwerk „Fanny und Alexander“ denken bei dieser Szene. Wie Vinterberg hier subtil mit Glauben und Schuld spielt, vergisst man nicht so schnell.
Im folgenden Herbst treffen sich alle wieder zur Jagd. Sie singen und trinken, feiern und lachen wie eh und je. Und am Ende fällt ein Schuss.