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Die Veranstaltung wurde ihrem Ruf als wichtigstes kontinentaleuropäisches Showcase-Festival ein weiteres Mal gerecht.
Groningen
Wir sind uns hoffentlich einig, dass es nichts Schlimmeres gibt als ein Publikum, das ausschließlich aus sogenannten Fachbesuchern besteht. Für den auftretenden Künstler bedeutet das: Es wird geschwätzt, gescherzt, getrunken – das Konzert gerät zum Nebenereignis, die Musik zur Kulisse. Wer trotzdem zuschaut, tut dies schweigend und mit verschränkten Armen. Und ja, wir sind uns absolut darüber im Klaren, dass wir bisweilen ein Teil des Problems sind.
Zumal beim Eurosonic im niederländischen Groningen, wo Dauermurmeln und der Verzicht auf Beifallsrituale noch ergänzt werden durch eine sagenhaft hohe Fluktuation während der Auftritte. Vielleicht der Grund, weshalb Anna Calvi noch ein bisschen strenger guckt als sonst. Die Chanteuse spielt mit abgespeckter Band ihren von vielen Auftritten bekannten Katalog und hat ganz offensichtlich mehr als nur ein bisschen schlechte Laune.
Mit Desinteresse ist das Verhalten der Konzertbesucher indes nicht zu erklären: In Groningen wird geschachert und notiert, verhandelt und gefilmt, wenige Minuten eines Auftritts können – dramatisch gesprochen – über Sieg oder Niederlage entscheiden. Jemand wie Anna Calvi ist eigentlich fehl am Platze, weil es hier – und das macht den einmaligen Reiz dieses Festivals aus – um die Bands von morgen geht. Nirgendwo in Kontinentaleuropa kann man sich derart gebündelt einen professionellen Eindruck über neue Musik verschaffen wie hier, wo an vier Tagen 293 Künstler auf 34 Bühnen auftreten.
Dass ausgerechnet die Chemnitzer Band Kraftklub die vermeintlichen Gesetze dieser Leistungsschau bricht, indem sie am Freitagabend die örtlichen Musikschule förmlich in Fetzen reißt, ist aller Ehren wert. Kürzlich sind die im Stile britischer 70s-Skins gewandeten Musiker überraschend von null auf eins in die deutschen Album-Charts eingestiegen, in Groningen zeigte die Band, warum.
Begonnen hatte das Festival bereits zwei Tage vorher mit der Verleihung der European Festival Awards sowie einer Show rund um die Vergabe des European Border Breakers, kurz EBBA, die vom britischen Top-Conférencier Jools Holland moderiert wurde. Im Vergleich zu ähnlichen Veranstaltungen war die Verleihung eine ebenso kurzweilige wie unterhaltsame Angelegenheit: Die quirlige Selah Sue, die später noch den Publikumspreis erhielt, überzeugte mit ihrem Anti-Charme, Boy sorgten mit „Little Numbers“ für die Mitklatschparts, Agnes Obel mit Harfe und Klavier für einen Hauch von Hochkultur.
Natürlich ist eine solche Veranstaltung Anlass genug, über kommende Trends zu räsonieren. Die Retrowelle, so viel steht fest, wird uns auch 2012 weiter begleiten. Spöttisch könnte man sagen, dass nach dem Winehouse-Drama und einer nicht ins klassische Major-Profil passenden Sängerin wie Adele nun die funktionaleren Retro-Soul-Modelle kommen. Natürlich ein Widerspruch in sich, den Leute wie die aalglatte, aber verdammt gute Lianne La Havas indes durch Talent auflösen zumindest auf der Bühne. Wie potenziell wichtig jemand eingestuft wird, lässt sich bei diesem Festival am Fachpublikum ablesen, das im Falle der Havas überwiegend aus Bookern der größten Konzertagenturen besteht. Ein Aufruhr, der nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass die Sängerin auf der „Sounds Of 2012“-Liste der BBC empfohlen wurde.
Dort wurde auch Jamie N Commons aufgeführt, vor dessen Auftritt der Ansager erklärte, der Blues-Sänger sei von Wölfen gesäugt und in der Wüste großgezogen worden. Als Commons die Bühne betrat und mit seiner Band einen A-cappella-Gospel anstimmte, war man geneigt, die Mär zu glauben: Seine Stimme klingt, als hätten ihm die Wölfe seinerzeit Muddy Waters und Howlin‘ Wolf zum Fraß vorgeworfen. Auf diesen Mann wird man 2012 achten müssen.
Im De Spieghel lässt man das Fes-tival ausklingen. Die tollen Veronica Falls vermitteln einen Eindruck davon, wie es gewesen sein muss, in den frühen Tagen Velvet Underground zu sehen. Während James Hoare stoisch seine Gitarre bedient, geschieht ein Wunder: Das Auditorium schweigt. Ergriffen.