Hybride Realität
Thomas von Steinaecker spielt durch, wie virtuelle Abbilder zurückscheinen auf die Lebenden, diese Realität zweiter Ordnung sich in die erste Wirklichkeit einmischt und diese wiederum neue Imaginationen von sich schafft, die dann ebenfalls wieder retournieren. Realität ist ein Spiegelkabinett, ein mehrfach gebrochener Hybrid aus Erfahrungen und Vorstellungen, eben „Geistern“. Jürgen Kämmerer ist geradezu besessen von so einem Geist. Seine ältere Schwester Ulrike wird noch vor seiner Geburt Opfer eines Gewaltverbrechens und verschwindet spurlos. Er kennt nur Bilder von ihr. die sich aber als wirkungsmächtig erweisen, weil die Abwesende den Eltern weiterhin ständig durch den Kopf spukt. So bleibt sein Ego fremdbestimmt von diesem Schemen. Er imitiert sie unbewusst, identifiziert sich mit ihr. Ein Dokumentarfilm wird gedreht, der wieder neue Ulrike-Bilder produziert, die sich mit seinem Leben verzahnen, und schließlich setzt sich eine Comic-Zeichnerin mit Jürgen in Verbindung, die sich für sein Schicksal interessiert und ihn als Figur in ihren autobiografischen Comics auftreten lässt. Die werden hier, ein hübscher Einfall, teilweise auch tatsächlich als Comics wiedergegeben. Jetzt entwickelt die Macht der Abbilder jedoch eine neue Qualität, Jürgen lebt den Bildern hinterher, er spielt nach, was die Strips ihm vorgeben, und spätestens jetzt wäre eigentlich eine Therapie dringend angeraten. Steinaeckers zweites Buch ist ambitioniert und nichts Geringeres als eine adäquate, zeitgemäße Weiterentwicklung des realistischen Romans, nur sieht man den Bauplan manchmal etwas zu deutlich. (Frankfurter Verlagsanstalt, 19,80 Euro)