Miles Davis

The Cellar Door Sessions 1970

Col (Sony Music)

Aufregende Fusion-Sessions aus dem Nachlaß von Davis

Die umfassenden Davis-Box-Sets der letzten Jahre haben vor allem Licht in die nicht ganz unumstrittene Fusion-Phase gebracht: „The Complete In A Silent Way Sessions“, „The Complete Bitches Brew Sessions“. „The Co,mplete Jack Johnsons Sessions“ allesamt erhellend und exzellent. Das Gemeine am Fusion war ja zunächst, daß hier Stilmittel des Rock verwendet wurden, ohne allerdings dessen Haltung anzunehmen: „Ich will kein weißer Mann sein. Rock ist ein Wort des weißen Mannes“, soll Miles Davis mal gesagt haben. Auf „Bitches Brew“ spielten er und seine Band mit cooler Distanz, Virtuosentum und elitärem Duktus, nicht mit der dem Rock eigenen Unmittelbarkeit, Rohheit und Naivität. Diese abstrakt-filigranen Texturen hatten mit konkreten Aussagen des Rock nicht das Mindeste zu tun – außer vielleicht, daß sie im Kopf so manches Rockmusikers ein Vakuum erzeugten, das erst Punk wieder langsam (und nicht bei jedem) auflösen konnte. Es war nicht Miles Davis, der hier nach den Regeln des neu entdeckten Genres spielte, vielmehr unterwarf er dieses seinen eigenen. Auf dem furiosen „A Tribute To Jack Johnson“ bediente er sich dann der Codes des (schwarzen) Pop. Die ikonographische Pose auf dem Coverfoto, die ihre Direktheit schon andeutenden Titeln „Right Off“ und „Yesternow“, das Jack-Johnson-Quote am Ende: „I’m Jack Johnson. I’m black, and they never let me forget it. I’m Jack Johnson, i’m black, and I never let them forget it.“ Die ersten zehn Minuten von „Right Off“ sind immer noch schockierend: McLaughlins grobzahnige Gitarre. Miles‘ für seine Verhältnisse geradezu rauschhaftes Spiel.

„The Cellar Door Sessions 1970“, ein opulenter Schuber mit sechs CDs und ausführlichen Liner Notes aller Beteiligten (außer Davis), erzählt nun diese Geschichte weiter. Nach den Aufnahmen zum „Jack Johnson“-Album (aber noch vor der Veröffentlichung) im April 1970 spielte Davis im kleinen Club „The Cellar Door“ in Washington, DC im Dezember vier Abende mit einer neuen Band. Von den letzten Studio-Sessions waren nur Airto Moreira und Jack De Johnette übrig geblieben, dazu stießen Saxophonist Gary Bartz, Stevie-Wonder-Bassist Michael Henderson und Keith Jarrett am Fender Rhodes. Mit diesem Line-up war der Wechsel von akustischem zum elektrischen Baß endgültig vollzogen, dazu war es die erste Fusion-Besetzung mit nur einem Keyboarder.

Material der letzten Studio-Alben fand sich kaum noch im Live-Repertoire, und auch vom straighten Ansatz von „A Tribute To Jack Johnson“ war wenig übriggeblieben. Die Band spielte über im Vorhinein nur minimal ausgearbeitete Stücke, und man kann hören, wie sich diese im Verlauf der Performances (von den zehn an den vier Abenden mitgeschnittenen Sets sind hier sechs zu hören) entfalten. Während sich die Musiker zu Beginn – ähnlich wie bei der Studioversion von „Yesternow“ – noch fast tastend vorwärts bewegen, entwickeln die Stücke schließlich eine eigene Dynamik, werden dichter, intensiver, perkussiver und breiten spielerisch den Funk des erst zwei Jahre später erschienenen „On The Corner“ aus. Mag man bisher gedacht haben, die – wie es nach den offiziellen Veröffentlichungen erschien – plötzliche Verwandlung vom coolen Jazzgott zum Funkster sei ein schmieriger Karriereschachzug von Produzent Teo Macero und Davis-Frau Betty gewesen, ist diese These nicht länger haltbar, denn hier wird man livehaftig Zeuge der Genese dieser neuen Spielart. Vor allem die Sets vom 18. Dezember (dokumentiert auf CD drei und vier) können als Höhepunkt und Essenz der Davis-Fusion-Phase gelten.

Einen Tag später stieß Gitarrist John McLaughlin zur Band. Dieser letzte Abend des Gastspiels wurde mit einigen (unedierten, remixten) Stücken schon auf „Live-Evil“ von 1970 dokumentiert, hier gibt es nun die kompletten Performances, bei denen McLaughlin zwar noch einige Kehren hinzufügen kann, aber in dieser zu diesem Zeitpunkt wie geschmiert laufenden Band an einigen Stellen wie ein Fremdkörper wirkt.

Nach allem, was man weiß, würde man meinen, „The Cellar Door Sessions 1970“ dokumentiere die letzte wirklich grandiose Miles-Davis-Besetzung, doch sicher sein kann man sich da nicht mehr.