R.E.M. :: Around The Sun
TROST IN SCHWEREN ZEITEN: R.E.M. GELINGT WIEDER EIN GROSSER WURF
Die Angst vor dem ersten Ton. Irgendwann muss R.E.M. doch die Inspiration ausgehen. Nach all den Jahren haben sie vielleicht keine neuen Ideen mehr. Dann sind Melodien und Verse verbraucht, man legt die neue Platte auf und findet bestenfalls einen mauen Aufguss der einstigen Magie. Wie deprimierend wäre das!
Was für eine Erleichterung, „Around The Sun“ zu hören, das 13. Album von R.E.M. – und eines ihrer besten. Zum ersten Mal seit „New Adventures In Hi-Fi“ schlägt einen schon der erste Song sofort in den Bann: das Liebeslied „Leaving New York“, voll vorsichtiger Andeutungen („You might have succeeded in changing me/ I might have been turned around“) und Aussichten („It’s easier to leave than to be left behind“), mit den typischen Auslassungen, die alles offen halten. „Leaving New York never easy…“ Zwischen den zarten, fast zaghaften Zeilen scheint plötzlich Trotz durch („I told you, I love you, I love you, forever“), der das Stirnrunzeln des Gegenübers schon antizipiert. Ganz einfach geht es bei Michael Stipe nie, ein kleiner Stachel bleibt immer, und genau so entgeht er dem Klischee love song auch diesmal. Der schleppende Rhythmus von „The Outsiders“ mag zunächst irritieren, lässt einen aber nicht wieder los. Dass am Ende Q-Tip einen kleinen Rap beisteuert – geschenkt. Nicht nötig, aber auch nicht störend.
Und schon kommt „Make It All Ok“, dessen verhaltener Piano-Anfang einen kaum vorbereitet auf dieses erschütternde Beziehungsdrama. Zärtliche Strophen, die immer mit einem halb vorwurfsvollen, halb verzweifelten „Didn’t you now? Didn’t you?“ enden, dann anschwellen zu einem letzten Wust von verwirrenden Gefühlen, die ins Nichts führen müssen: „If you offered me a world, did you think I’d really stay?/ If you offered me the heavens, I’d have to turn away.“ Gerade die tragischen Stücke sind wieder so seltsam tröstlich. Nach der etwas verschrobenen Instrumentierung von „Up“ und der üppigschwebenden von „Reveal“ hat das Trio R.E.M. jetzt den perfekten Mittelweg gefunden. Nicht zu verspielt, nicht zu verklimpert, natürlich niemals kalt, niemals steril.
„Around The Sun“ hat ein paar irritierende Ecken, bleibt letztlich aber immer ermutigend. Mehr Erbauung wird man jenseits von christlicher Rockmusik kaum finden, und R.E.M. brauchen dafür weder glitschiges Pathos noch große Gesten. Das geht hier ganz einfach. Sogar das politisch eindeutigste Stück, „Final Straw“, das R.E.M. während des Irak-Krieges schon auf ihrer Website veröffentlicht hatten, endet mit diesem kleinen Schimmer Hoffnung. Die akustische, anfangs fast schüchterne Gitarrenbegleitung unterstreicht das Gefühl der Ohnmacht, langsam schleicht sich Schwung ein, fast Alarm – und am Schluss möchte man aufstehen und gleich gegen Bush mitdemonstrieren. Bei „The Worst Joke Ever“ funktioniert das ähnlich. Da drängt sich kein Ton auf, aber jeder einzelne ist präzise gesetzt und frisst sich spätestens beim dritten Hören im Hirn fest. Das Spiel mit der Dynamik, mit den feinen Nuancen zwischen leise und ein bisschen lauter beherrschen R.E.M. so gut, dass sie gar keinen Krach mehr brauchen. Die paar komischen Instrumente, Drumcomputer, Gast-Rapper – all das fügt sich nahtlos ein, es wirkt nicht aufgesetzt.
Experimente sind bei R.E.M. nicht mehr nötig, waren sie ja eigentlich nie. Peter Buck und Mike Mills hauen einen mit ihren bloßen Melodien um – und dann ist da noch diese Stimme, natürlich. Die Ballade „I Wanted To Be Strong“ ist so ein zwingender Song, und selbst wenn ich – ohne Textblatt, wahrscheinlich aber auch mit – keine Ahnung habe, wovon er genau handelt, so ist es gerade diese Unschärfe, die in den Sog zieht. Irgendwie versteht man das, diese Verzweiflung über die zerstörungswütigen Menschen – und just nach diesem sentimentalischen Moment kommt „Wanderlust“, ein flottes Lied mit tiefem Gesang, der sich bald in lichte Höhen aufschwingt – eine Hymne für alle, die gern aus dem Koffer leben. Aber im Grunde an das Leben allgemein. Das Ende ist – in schöner R.E.M.- Tradition – zuversichtlich. Bei „The Ascent Of Man“ laufen die Gesangslinien so brillant gegeneinander, dass es einen fast fröstelt, bis „Around The Sun“ einen dann wieder auffängt. Der Mensch im Song bittet um ein bisschen Aufschub, ein wenig Zeit zum Nachdenken: „Hold on world cause you don’t know what’s coming/ Hold on world cause I’m not jumping on/ Hold on to this boy a little longer/ Take another trip around the sun.“ Wer „Around The Sun“ besitzt, braucht in diesem Jahr eigentlich kein anderes Album mehr. Hier gibt es alles: Politik und Liebe, Verzweiflung und Hoffnung, zarte Balladen und unwiderstehliche Ohrwürmer, unfassbare Poesie von Wahrheiten und Schicksalen, Fehlern und Vergebung. Nach dieser knappen Stunde mit Buck, Mills und Stipe weiß man, warum Musik eben doch lebenswichtig ist.
R.E.M. ist ein Meisterwerk gelungen. Schon wieder!