SPECIAL :: von Samanta Schweblin
Die Wahrheit über die Zukunft HHHH
Ein kleines Mädchen, das lebendige Vögel verspeist; ein erfolgreicher Maler, der schon als Kind dazu neigte, die Köpfe seiner Mitmenschen auf den Asphalt zu schlagen; eine Einstellungsprüfung, die darin besteht, kaltblütig einen Hund zu töten; ein Mann, der einen Schacht gräbt, der wer weiß wohin führt – in Samanta Schweblins Erzählungen sind die Gewalt und das Fantastische ein selbstverständlicher Teil der Realität. Unmerklich kippen die verstörenden Kurzgeschichten der 1978 in Buenos Aires geborenen Autorin ins Albtraumhafte und Surreale. Äußerst subtil bricht sich das Unheimliche Bahn. Nicht umsonst wird Schweblin in ihrer Heimat mit literarischen Größen wie Adolfo Bioy Casares oder Julio Cortázar verglichen. In „Die Wahrheit über die Zukunft“ beweist sie ihr meisterhaftes Gespür für erzählerische Ökonomie. Ein Satz genügt, und im unscheinbaren Leben ihrer feinfühlig und nuancenreich gezeichneten Figuren tut sich ein Abgrund auf. „Von Zeit zu Zeit fand ich eine Feder, während ich meinen täglichen Verrichtungen nachging“, heißt es etwa in „Der Mund voller Vögel“. Doch da sind die ob der Essgewohnheiten ihrer Tochter entsetzten Eltern bereits hin- und hergerissen: zwischen der Möglichkeit zur psychischen Verdrängung und der erschütterten, gleichwohl standhaften Liebe zu ihrem eigen Fleisch und Blut, das man nicht verhungern lassen kann. Durch diese Motive erdet Schweblin ihre beklemmenden und geheimnisvollen Short Stories. Die Fiktion allein ist in ihnen das Wirkliche. (Suhrkamp, 19,80 Euro) alexander müller
Rotzig & Rotzig HHH1/2
von Jörg Juretzka
Jörg Juretzka kann in nullkommanix eine kanadische Blockhütte bauen – oder einen Krimi schreiben. Der gelernte Zimmermann aus Mülheim an der Ruhr lässt bereits zum neunten Mal seinen Privatdetektiv Kristof Kryszinsky ermitteln. Diesmal schlägt sich der grobe Klotz in der Verkleidung eines Hausmeisters im heruntergekommenen Wohnpark Nord zunächst mit den zwei zehnjährigen Taugenichtsen Yves und Sean herum, die in diesem gar nicht so frankophilen Milieu nur „Üffes“ und „Sien“ genannt werden. Sie werden für eine Diebstahlserie verantwortlich gemacht und verschwinden alsbald, da ihrer Mutter das Sorgerecht verdächtig schnell entzogen wird, in der Obhut eines wohlhabenden Pärchens in Luxemburg. Kryszinsky, der einen Narren an den beiden Rotzlöffeln gefressen hat, kommt allerdings dahinter, dass ihm und den Zwillingen übel mitgespielt wurde. Im Laufe seiner Ermittlungen legt er sich mit allen zuständigen Behörden an und riskiert Kopf, Zähne und Kragen, um die Jungs aus den Fängen eines Kinderschänderrings zu befreien. Trotz des aberwitzigen Humors, der schlagfertigen Dialoge und des actionreichen Plots bleibt Juretzkas rasanter Krimi stets nah dran an der sozialen Wirklichkeit, die alles andere als komisch ist. (Rotbuch, 16,95 Euro) Alexander Müller
Letzte Nacht in Twisted River HHH
von John Irving
Manche Schriftsteller schreiben Schinken und sind Leichtgewichte, andere schreiben schmale Traktate und sind Schwergewichte. John Irving gehört zur seltenen Klasse der Autoren, die Schinken schreiben und Mittelgewichte sind, und er wechselt – von „Die vierte Hand“ vielleicht abgesehen – nie seine Liga. Eine Novelle wäre für ihn wie eine Fliege für einen Bären. Irving ist von sich selbst sehr eingenommen – er weiß aber auch, was er kann.
„Letzte Nacht in Twisted River“ geht locker über 700 Seiten und ist wieder so eine Schnurre mit Abschweifungen, Umwegen und Nebenpfaden, deren Konstruktion an sich schon ein Kunststück ist. Diesmal erzählt Irving vom Koch Dominic und seinem Sohn Danny und einem Totschlag, er verfolgt das Paar über Jahrzehnte, und unterwegs lernt man so ziemlich alles über den Wandel des Holzfällens und Flößens in Neu-England (und vergisst es gleich wieder), man erfährt viele Kochrezepte und etymologische Merkwürdigkeiten, es gibt Liebesgeschichten und Todesfälle und ein bisschen Magie und das gesamte Arsenal des routinierten Spintisierers.
Der Schamott ist nicht ganz so aberwitzig und amüsant wie „Garp“ und „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“, aber das schreiben die Kritiker ja seit 20 Jahren über jeden neuen Roman von Irving. Hans Herzog hat die Schelmereien vorzüglich übersetzt; sogar Popsongs der 80er-Jahre kommen bei dem Recherche-Giganten diesmal vor, und lediglich bei einem Duett von Michael Jackson und Paul McCartney („This Girl Is Mine“) ist ihm ein Fehler passiert. Den Kram mit den Holzfällern und dem Kochen müssen wir ihm sowieso glauben.
Und verdammt gut sieht er bei so viel Schreiben aus, der Irving. (Diogenes, 26,90 Euro) arne Willander
Der Italiener HH
Drei Tage HHHHH
von Thomas Bernhard
Als der Filmemacher Ferry Radax einen langen Monolog in Hamburg-Ohlsdorf vorschlug, konnte Thomas Bernhard naturgemäß nicht widerstehen. Am 4. Juni 1970 saß er erstmals auf der Parkbank und erzählte schaurig von seiner Kindheit in Traunstein, den Fleischhauern bei ihrer blutigen Arbeit, von brutalen Überfällen, seiner Lungenkrankheit, der Einsamkeit des Schriftstellers und seiner Melancholie in Wien: „Man sitzt irgendwo in einem Park, stundenlang, in einem Café, stundenlang – Melancholie. Es sind die jungen Schriftsteller von damals, die nicht mehr jung sind. Plötzlich sieht man, es ist kein junger Mensch mehr, er gibt sich als junger Mensch – wahrscheinlich wie ich mich als junger Mensch gebe, aber kein junger Mensch mehr bin.“ Der damals 38-jährige Austro-Elegiker trug Hemd, Krawatte, Pullover und gefiel sich beim Vortrag; während Tonband, Lichtorgel und Holzbank herumgetragen wurden, stakste er ein paar Schritte auf dem Rasen. „Drei Tage“ ist die früheste filmische Suada des Monomanen, die alle späteren Leitmotive schon anschlägt, wenn auch noch ein wenig verkrampft.
Der ebenfalls von Ferry Radax nach einem Erzählfragment von Bernhard realisierte Film „Der Italiener“ ist leider ein kleines Fernsehspiel der deprimierendsten Art: Die karge Skizze handelt von der Aufbahrung eines toten Italieners auf einem Katafalk in dem Dorf Wolfsegg, in der Film-Fassung braucht sie 76 Minuten – Radax integrierte den Prozess des Filmens in die Pseudo-Dokumentation: Die Avantgarde von gestern. Später montierte Bernhard das morbide Szenario in den Großroman „Auslöschung“. (Suhrkamp, 19,90 Euro) arne Willander
Mary und der Riese HH1/2 von P.K.Dick
Laut Dicks eigener Aussage habe er sich hier an einer „Don Giovanni“-Adaption versucht, aber so richtig wüst ist der Wüstling Joseph Schilling gar nicht, eher der Typus ältlicher, sehr kultivierter Sugardaddy. Und ein bisschen liest sich dieser frühe Zeitroman des späteren Sci-Fi-Visionärs, der zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb, auch wie eine Fifties-Version von „High Fidelity“. Schilling hat sein Geld als A&R-Manager in der Musikbranche gemacht, ist aber ein E-Musik-Afficionado geblieben und setzt sich mit einem kleinen Plattenladen in dem kalifornischen Nest Pacific Park zur Ruhe. Dort trifft er auf die twiggyhafte, neurotisch-unzufriedene, sich in der lokalen schwarzen Jazz-Szene herumtreibende Mary – und die fordert den alten Schwerenöter ein letztes Mal, aber richtig.
Dick übt noch in diesem Roman, seine Meisterschaft in der szenischen Darstellung zeigt sich zwar schon partiell, aber die Handlung ist fahrig, bisweilen kaum motiviert, das psychologische Profil der Protagonisten nicht immer plausibel. Dass die Verlage dankend ablehnten, kann man ihnen kaum verdenken. Aus heutiger Perspektive ist der Roman viel interessanter. Zum einen als Bericht aus dem Trainingslager, in dem sich langsam der große Autor formt. Aber eben auch als aufschlussreiche Endoskopie von der depressiven, an sich selbst leidenden US-Nachkriegsgesellschaft. Die Sehnsucht nach den libertinären 60er ist hier auf jeder Seite spürbar. Diese deutsche Erstveröffentlichung ist auf 400 Exemplare limitiert – Dick-Addicts müssen sich beeilen. (Edition Phantasia, 45 Euro)
frank schäfer