Tocotronic :: Kapitulation Live
Von wegen lärmend und ungestüm: Kapitulation revisited
Hallo, Hamburg! Wunderschön, wieder hier zu sein und mit euch einen Abend zu verbringen“, tönt eine sonore Entertainerstimme, die man erst gar nicht als die Dirk von Lowtzows erkennt, durchs Kulturzentrum Kampnagel. Von Tocotronics Rückkehr zu ihren Anfängen war an mancher Stelle die Rede, als das Album „Kapitulation“ vor sechs Monaten erschien, vom freudigen Wiederhören mit dem Schrammelrock der frühen Jahre. Das war natürlich Quatsch; ein Missverständnis, das Tocotronic mit Songs wie „Sag alles ab“ bewusst zugelassen haben. Der Mitschnitt des Hamburger Konzerts vom 16. Oktober 2007, der jetzt als „Kapitulation Live“ erscheint, rückt die Dinge jedoch wieder ins rechte Licht.
Man muss nicht einmal die „Karmers Tapes“, die frühen Tocotronic-Live-Mitschnitte,die aufs neulich wiederveröffentlichte Alhum „Nach der verlorenen Zeit“ draufgepackt wurden, als Vergleich heranziehen, um festzustellen, dass Tocotronic alles andere als eine Rückkehr zum trashigen Heulsusen-Grunge ihrer Frühzeit im Sinn haben. Auf „Kapitulation Live“ scheppert, wackelt und kracht nichts mehr. Stattdessen kann man auf dem Album konzentriert musizierenden Männern zuhören, die auch bei scheinbar einfach gebauten Nummern dem Postrock längst näherstehen als der unbeschwert lärmenden Postadoleszenz.
Naturgemäß haben sich die Songs vom sowieso live eingespielten „Kapitulation“ am wenigsten verändert, auch wenn Tocotronic den Titelsong vor Publikum etwas schneller twisten lassen als allein im Studio. Selbst „Wehrlos“, das es in der Version aufs Album geschafft hat, die von Lowtzow solo am Nachmittag beim Soundcheck gespielt hat, variiert den Duktus des Originals nur marginal. Tocotronic-Klassiker sind dagegen kaum wiederzuerkennen. So wird „Sie wollen uns erzählen“
alles Jugendbewegte entrissen, indem Folkrockanklänge getilgt und die Mundharmonika des Originals in einen Gitarrenriff übersetzt wird. Wie Rick Mc-Phail (der links auf der Bühne steht, bei den Aufnahmen aber von rechts zu hören ist) mit seiner grandiosen Gitarrenarbeit dem Song einen neuen Dreh gibt, ihm Schwere verleiht, ist unerhört. Auch von der Schnoddrigkeit von Songs wie „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“
lässt die Live-Version nicht mehr viel übrig.
Auf „Kapitulation Live“ findet keinesfalls eine Feier des Ungestümen und Lärmenden, keine Rückkehr zum Frühwerk statt, sondern die Dekonstruktion desselbigen. Bei „Freiburg“ vor allem, das in Präzisionsarbeit auseinandergenommen und zu einem über acht Minuten langen Feedback-Monster neu zusammengebaut wird.