Wartezimmerkunst

Unser Kolumnist Rocko Schamoni ist sich nicht ganz sicher, was es zuerst war, der Wandschmuck oder die Krankheit

Am Montag war ich wieder bei Doktor Herzfeld. Seit Corona ist es schwierig, einen Termin beim Doktor zu bekommen, sein Telefon ist durchgängig besetzt und im Treppenhaus steht häufig eine lange Schlange von Leidenden. Das ist für mich als praktizierender Hypochonder schwer zu ertragen, weil ich ja viele Leiden habe und deshalb häufig zum Arzt muss. (Ich bin übrigens der einzige Hypochonder, der all seine Krankheiten auch tatsächlich hat, das ist wissenschaftlich bewiesen.) Auf dem Höhepunkt meiner Hypochondrie war ich an vier von fünf Werktagen beim Arzt. Und weil das Doktor Herzfeld auffiel, habe ich mir dann noch ein paar Ausweichärzte hinzugenommen, unter denen ich frei flottieren kann.

Was mir beim Besuch all dieser Praxen auffällt, ist die Abwesenheit fast jeglicher Form von Geschmack oder Anstand in der Auswahl von Kunst. Jedes Mal wieder wundere ich mich darüber, zu was für stilistischen Entgleisungen erwachsene Menschen mit einem so hohen Bildungsgrad wie Ärzte und Ärztinnen – also die Top Liga unserer Gesellschaft – in der Lage sind. Die Wartezimmer sind in der Regel mit derart blendender Niveaulosigkeit verunstaltet, dass die meisten Wartenden entweder die Augen gestresst geschlossen halten oder auf ihrem Handydisplay nach Erlösung suchen. Man kann dort – von den handelsüblichen Ikea-Miro-Drucken einmal abgesehen – häufig die schäbigste Kunst sehen, die Menschen in der Lage sind zu produzieren: Aquarelle mit diffusen Lichtkreisen und Strahlen, naiv gemalte, erlöste Gesichter, die an Enden von Tunneln auftauchen, wahrscheinlich als Hoffnungsspender für all die Leidenden gedacht. Selbstgemalte Naturvölker, afrikanische Steppen, Wildtiere, manchmal auch Eingeborene. Immer wieder Pandas, Delfine und Pinguine, wie eine tiergewordene Drohung der Lieblichkeit. Dann gerne witzige Landtiere wie Hühner, Enten oder Kühe. Oder Unfigürliches: nervige Neonfarbspritzer auf türkisem Hintergrund, selbstgetropfte Jackson Pollocks in Pink und Lila, manchmal auch braun grob Aufgetragenes in wurstig-wulstig. In besonders einfachen Praxen gibt es als Krönung der Demütigung Baumarktkunst, die definitiv unterste Gattung der Kunstformen, planschig in Serie runtergeschmierte Sonnenblumen vor Rasen und Himmel, aber ECHT gemalt – und vor allem billig!

Dass die Patienten manchmal Stunden in den Wartezimmern zubringen und auf diese hypnotisierenden Psychoobjekte starren müssen, dass man unter solcher Kunst nur noch kranker werden kann, ist den Ärzten und Ärztinnen nicht bewusst. Oder – perfider noch – genauso geplant. Man muss die Patienten krank halten, damit die Wartezimmer voll sind. Allein der Gang vom Wartezimmer ins Behandlungszimmer erscheint dann schon wie eine Erlösung und macht die Patienten dankbar. Ich stelle mir vor, wie ich im Wartezimmer eines Augenarztes beim Betrachten der beschriebenen Baumarktkunst eine spontane Netzhautablösung erleide und sofort darauf vom Doktor durch eine schwierige Augentransplantation wieder geheilt werden könnte – der perfekte Kreislauf.

Jetzt wird mir auch bewusst, warum ich so viele Leiden habe und sich mein Zustand ständig nur verschlechtert – es kommt von der Kunst in den Arztpraxen.

Auf meinem Grabstein wird stehen: An Kunst gestorben.

Autorenbild von Kerstin Behrendt

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