Der Schriftsteller Jan Brandt über Hausmusik und Lieder fürs Leben

An den Feiertagen kommen die Menschen zusammen und machen etwas, was sie sonst nie tun: Hausmusik. Eine wahre Weihnachtsgeschichte

„So“, sagte Vater, „ich glaube, es ist Zeit für ein Lied.“ Mutter versuchte nicht, ihn zurückzuhalten, im Gegenteil, sie ermutigte ihn noch, während wir Kinder uns anschauten, die Köpfe schüttelten und mit den Händen unsere Augen beschirmten, weil wir hofften, dass die anderen uns nicht mit ihm in Verbindung bringen würden. Vater beachtete uns nicht. Stattdessen erhob er sich, stieg auf den Stuhl und von dort auf den Tisch, hielt eine kurze Ansprache zu Ehren des Jubilars oder der Jubilarin und begann, vor der versammelten Festtagsgesellschaft zu singen: „Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen …“

Meist fanden sich im Saal noch Sangesbrüder, ganz sicher sein bester Freund Walter Buskohl, mit dem er seit mehr als dreißig Jahren im Männerchor im ostfriesischen Ihrhove sang. Dann stimmten sie als Kanon mit ein, und bald erfasste den ganzen Raum eine Welle des Glücks. Nach und nach standen die Leute auf, sangen und klatschten und schunkelten und lagen sich hinterher freudestrahlend in den Armen. Wir schämten uns, weil es nicht unsere Musik war, die da erklang, deutsche Volkslieder, und gleichzeitig bewunderten wir sein Talent: die Menschen zu begeistern, die Masse in Ekstase zu versetzen.

Wir Kinder standen in seinem Schatten, auch deshalb duckten wir uns weg. Dabei spielte Musik in unseren Leben eine ebenso große Rolle wie in seinem. Aber wir interpretierten sie nicht, wir konsumierten sie. Mein Bruder, meine Schwester und ich. Wir saßen in unseren Zimmern vor unseren Stereoanlagen und hörten die Rolling Stones, The Cure und a-ha, die Boxen aufgedreht, und wenn sich die Lieder überlappten und Dissonanzen entstanden, traten wir auf den Flur hinaus, statteten uns gegenseitig Besuche ab, schrien uns an, den Krach endlich leiser zu machen, warfen die Türen hinter uns zu und setzten, weil niemand von uns nachgeben wollte, Kopfhörer auf. Unsere Musik isolierte uns, während seine Musik ihn integrierte und öffnete: für die Welt.

Auf der anderen Seite der Bahn, ich konnte das Haus von meinem Zimmerfenster aus sehen, wohnten Buskohls. Walter und Hiltrud Buskohl, er war Viehhändler, und die beiden hatten einen Sohn, Karl Walter, von allen bloß Kalli Walli oder Carl Carlton genannt, der, weil er seit seiner frühen Jugend Gitarre spielte und mit Herman Brood & His Wild Romance, Mink DeVille, Manfred Mann’s Earth Band, The Band, Robert Palmer, Peter Maffay und Udo Lindenberg Platten aufgenommen hatte und mit seiner eigenen Band, den Songdogs, durch Europa tourte, eine Legende war. Mein Bruder verehrte ihn, seit er die Single „Do You Remember“ von Long Tall Ernie & The Shakers gehört hatte, er spielte die Musik, die er mochte: Rock, Rock’n‘Roll und Blues.

Immer wieder fragten wir uns, was drüben bei Buskohls abgegangen war, was Walter gemacht hatte, um die Leidenschaft für diese, unsere Musik in seinem Sohn zu wecken. Für uns waren Vater und Walter vom gleichen Schlag, sie traten zusammen auf, verkleideten sich bei jeder Gelegenheit, manchmal nur, indem sie sich fremde Hüte in die Stirn schoben oder Jacken verkehrt herum anzogen und beim Gesangvereinsfest im Friesenhof ihr Outfit besangen. Walter übernahm dabei den ersten Tenor und Vater den zweiten: „Sind wir nicht zwei nette Hans Würstel / Haben wir nicht schön Hüdel auf / Ein Hüdel mit Trüdel, mein Hut / Steht allen jungen Burschen so gut.“ Aber was immer es gewesen war, Vater hatte uns seine Gabe nicht vererbt.

Dabei hatte er uns früh ermutigt, ein Instrument zu erlernen. Nicht nur er, auch unsere Tante, Tante Lilo, die eigentlich seine Tante war. Tante Lilo hatte keine Kinder und nach dem Tod ihres Mannes auch keine Beschäftigung mehr, deshalb führte sie unseren Haushalt. Sie bereitete aber nicht nur das Essen zu und passte auf uns auf, sondern gab uns auch Privatunterricht. Denn sie stammte aus einer großbürgerlichen Braunschweiger Familie, den Jordans. Ihre Mutter Martha war eine berühmte Pianistin gewesen, die in ihrem Haus am Augusttorwall 4 auf ihrem Grotrian Steinweg umjubelte Klavierkonzerte gegeben hatte. Tante Lilo selbst sang im gemischten Chor Eala Frya Fresena Ihren „Auf den meerentrung’nen Wiesen / An der wilden Nordsee Strand / Wohnen wir, wir freie Friesen“ und spielte Blockflöte in drei Tonlagen. Was bei Jägern der Waffenschrank war, war bei ihr der Flötenschrank, in dem in schwarzen Kästen, die mich an Minisärge erinnerten, ihre Schätze lagen: ein halbes Dutzend Alt-, Sopran- und Tenor-Blockflöten mit Doppelklappe. Sie konnte alles spielen: von Volksliedern, Weihnachtssinfonien bis zu Quartetten von Bach, Händel und Vivaldi. Generationen von Kindern unterwies sie bei sich zu Haus in dieser Klangkunst, und zusammen mit ihrer Freundin, meiner Grundschullehrerin Frau Oschmann, bildete sie ein über das Dorf hinaus bekanntes Duo. Aber an meinem älteren Bruder bissen sich die beiden die Zähne aus.

„Blockflöte fand ich blöd“, erklärte mein Bruder immer, wenn ich ihn im Beisein unseres Vaters darauf ansprach, warum er, wo er doch tausend Platten habe und auf jedes Rockkonzert gehe, kein Instrument beherrsche. „Das fand ich blöd, weil da nur Mädchen waren. Und das habe ich auch so kundgetan, und trotzdem sollte ich da wieder hin. Und da habe ich die Blockflöte quer durch den Flur geschmissen. Daraufhin ist vorne ein Stück abgesprungen, und ich habe den Arsch vollgekriegt.“

„Wer hat dir den Arsch vollgegeben?“, fragte Vater. „Ich?“

„Das weiß ich nicht mehr“, sagte mein Bruder, und daraufhin brach Vater in schallendes Gelächter aus. „So“, fuhr mein Bruder fort, „und dann war ich im Jugendkreis und habe an einem Gitarrenkurs teilgenommen, und während die anderen christliche Lieder einübten, habe ich versucht, mir selbst ‚I Can’t Get No Satifsfaction‘ beizubringen, und weil mir das nicht gelang, habe ich es sein lassen.“

„Du hattest kein Durchhaltevermögen“, sagte ich.

„Das sagt der Richtige.“

„Ja“, Vater wandte sich mir zu, „warum hast du eigentlich aufgehört mit Akkordeonspielen?“

Ja, warum? Und warum hatte ich überhaupt angefangen, „Schifferklavier“ zu lernen, wie Vater es nannte. Ich war zehn, Tante Lilo hatte den Flügel ihrer verstorbenen Mutter weggegeben, wer weiß, was sonst aus mir geworden wäre, und mir ging es mit dem Blockflötenspielen ähnlich wie meinem Bruder, es machte mir keine Freude, es rockte nicht. Ich suchte nach einem neuen musikalischen Ausdrucksmittel – ausgerechnet in dem Jahr, in dem „Road To Nowhere“ erschien, die Hymne meiner Orientierungslosigkeit, in der das Akkordeon die Melodie vorgibt. Ich hoffte, so Pop und Hausmusik miteinander verbinden zu können. Voller Stolz schenkte mir Vater auf meinen Wunsch hin ein Hohner Student 40 Bass und sich selbst eine neue Mundharmonika 96 C/G Dur. Aber statt Talking Heads spielten wir zu Hause und im Unterricht „Jingle Bells“, „Die Reblaus“ und den „Schneewalzer“. Den übte ich rauf und runter, aber nie klang es so geschmeidig wie auf den Platten, die ich mir anhörte, um mir die Übergänge einzuprägen. Wenn ich den Schneewalzer spielte, stand jeder Ton für sich. Trotzdem bat Vater mich, bei jedem Fest aufzutreten und mein Können unter Beweis zu stellen. Während er, wenn er Musik machte, die Leute begeisterte und zum Mitsingen animierte, sprachen sie bei mir einfach weiter. Der Funke sprang nicht über, weil er in mir selbst nicht loderte. „Niemand hat mir zugehört“, sagte ich. „Alle haben sich währenddessen unterhalten.“

„Das ist ja skandalös“, sagte mein Bruder. „Da wurde dir, dem Künstler, nicht gehuldigt!“

Meine Schwester dagegen hielt wesentlich länger durch als mein Bruder und ich. Jahr für Jahr spielte sie mit Tante Lilo im Duett oder begleitete Vater bei seinen Gesangseinlagen vor dem Weihnachtsbaum. Später trat sie dem Gitarrenchor bei. In ihren markanten hellblauen Rüschenkleidern sahen wir sie überall, vor allem im Dezember: bei den Adventsgottesdiensten in der Kirche, den Weihnachtsfeiern im Friesenhof, auf dem Christkindlmarkt, dem Tanzseniorentreffen und beim Landfrauenverein. „Ja“, sagte meine Schwester, als ich später einmal mit ihr darüber sprach, „und deswegen habe ich irgendwann aufgehört. Das war Freizeitstress.“

Aber Vater hörte nicht auf.

Im Gegenteil: Nach einem Herzinfarkt, der ihm fast das Leben gekostet hätte, fing er noch einmal ganz von vorne an – kaufte sich mit über 60 eine Mandoline, das Instrument, das er schon als Kind gespielt hatte, und trat dem Zupforchester Leer bei. Stundenlang hörten wir ihn in seinem Zimmer tremolieren, „Dat du mien Leevsten büst“, „Ännchen von Tharau“, „Das Lied von der Loreley“ und „Sah ein Knab ein Röslein stehen“ und waren erstaunt, dass er es auch in dieser Kunst trotz seines Alters zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hatte. Ausverkaufte Konzerte. Begeisterte Zuhörer und Zuhörerinnen. Ständig auf Tour. Erst ein Schlaganfall hinderte ihn daran, mit der Mandoline weiterzumachen; danach fehlte die Beweglichkeit in den Fingern.

Aber Vater hörte immer noch nicht auf.

Singen und Mundharmonika spielen konnte er schließlich weiterhin. Mit seinem E-Bike fuhr er übers Land und spielte und sang den Leuten auf dem Weg und in Cafés unaufgefordert etwas vor. Meine Geschwister und ich stimmten meist nur an Weihnachten mit ein, wenn wir unterm Weihnachtsbaum unsere Hefte entfalteten und Lieder wie „Stille Nacht“, „Ihr Kinderlein kommet“ und „Alle Jahre wieder“ oft nur summend und brummend intonierten, als wären wir nie erwachsen geworden. Die Hausmusik hielt uns zusammen, über alle Differenzen, alle persönlichen und geographischen Grenzen hinweg. Sie war das Feuer, an dem wir uns wärmten, der Mast, an dem wir uns, umtost von den Wellen des Lebens, wiederaufrichteten.

Mit über 90 tat er sich mit zwei zehn und zwanzig Jahre jüngeren Musikern zusammen, einem Geiger und einem Gitarristen und gab ihrer Formation einen Namen, MARE: Manfred, Anton, Reemt. Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie traten sie Woche für Woche bei Geburtstagen, Seniorenfrühstücken und in Altenheimen auf und schöpften dabei aus einem Repertoire von fast hundert Liedern, von „Am Brunnen vor dem Tore“ bis zu „Wir sind die Ostfriesenkinder“. Auch ich nahm sie mit auf Lese-Tour durch Ostfriesland. Und da war es wie früher, wie zu Hause, wir standen wieder gemeinsam auf der Bühne, er sang und spielte, ich las und rezitierte.

Im Februar starb Mutter an einem Schlaganfall. Sie war ein Jahr jünger als Vater, 92, aber bis zu ihrem Tod immer noch aktiv gewesen. Wir waren alle am Boden zerstört. Für Vater war es am schlimmsten. Wie sollte er, der das Alleinsein nicht kannte, der immer Menschen um sich hatte, damit klarkommen? Einen Monat verbrachte ich in Ostfriesland, dann musste ich nach Berlin zurück. Ich hoffte, dass er es schaffen würde, dass er nicht daran zerbrach. Aber er zerbrach, verlor den Lebensmut. Zweimal reiste ich zurück und brachte ihn in die Notaufnahme. Einmal saßen wir dort neben einer Frau, deren Füße so angeschwollen waren wie seine. Und als sie, begleitet von ihrer Tochter aus dem Wartesaal humpelte, stimmte er „So weit die Füße tragen“ an, und beide fielen singend mit ein. „So weit die Füße tragen, such ich mein Glück auf dieser Welt…“

Als ich ihn Wochen später aus dem Altenheim abholte, wo er zur Kurzzeitpflege gewesen war, fuhren wir durch die Stadt ins Dorf zurück. „Halt hier mal eben an“, sagte er, wir waren gerade in Höhe des Modehauses, in dem meine Schwester in der Unterwäscheabteilung arbeitete. Ich hatte den Motor noch nicht ausgestellt, da war er schon auf dem Weg zum Eingang, durchs Erdgeschoss hindurch und auf der Rolltreppe nach oben. Vater setzte sich auf einen Stuhl zwischen BHs, Bustiers und Trägertops und erklärte der Abteilungsleiterin, dass es ihm schon viel besser gehe.

„Wie ausgewechselt“, sagte meine Schwester.

„Das nächste Mal bringen Sie aber bitte Ihre Mundharmonika mit“, sagte die Abteilungsleiterin.

„Das nächste Mal bringe ich meine Band mit“, sagte Vater. „Und dann singe ich: ‚Hab oft im Kreise der Lieben / in duftigem Grase geruht / und mir ein Liedlein gesungen, / und alles, alles war wieder gut. / Sollst uns nicht lange klagen, / was alles dir wehe tut! / Nur frisch, nur frisch gesungen, / und alles, alles wird wieder gut.‘“

Jan und Anton Brandt

Jan Brandts aktuelles Buch „Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt“ erschien im DuMont Verlag.

Jan Brandt
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