Schwere See, mein Herz

Die zweite Ausgabe des ROLLING STONE-Weekender war ein voller Erfolg. Unter anderem traten Element Of Crime, die Tindersticks und The National am Weissenhäuser Strand auf. Ein Rückblick.

Aller Anfang war grau. Während große Teile der Republik von einem letzen sommerlichen Aufbäumen vor die Cafès und auf die Straßen getrieben wurden, empfing der Weissenhäuser Strand mit Nieselregen und stürmischen Böen. Aber das ist ja der Vorteil eines überdachten Festivals: Dass das Wetter mal herzlich egal ist. Außerdem passte es gut zum überwiegend weihevoll-feierlichen Programm des ersten Abends: Midlake eröffneten das Festival auf der Zeltbühne mit einer sakralen Andacht, die vielleicht ein bisschen zu perfekt geriet. Jedenfalls hörte man keinen Unterschied zu den Studio-Versionen, was man entweder langweilig oder besonders gelungen finden konnte.

Ein anderes Bild dann kurz darauf. Wenn man nur mal flüchtig auf die Bühne schaute, konnte man denken, eine Hobby-Band aus Studienräten spiele ihre liebsten Hits aus Jugendtagen nach. Wenn man, ohne mit dem Werk der Band vertraut zu sein, ein bisschen zuhörte, war man sogar ziemlich sicher, dass es sich hier um eine Coverband handeln musste, denn so viele Songs mit Evergreen-Qualitäten kann eine Band alleine gar nicht schreiben. Wenn man jedoch ein Fan von Teenage Fanclub ist, stand man weit vorn, ergötzte sich an den Details, stand staunend vor Raymond McGinley, der nur so tat, als würde er beiläufig auf der Gitarre schrummeln, während er eigentlich ein subtiles Solo zauberte oder einen Mahlstrom erzeugte, der einen hineinzog in diesen Sound, in dem man viel lieber badet als im Spaßbad – ganz zu schweigen von der klirrend kalten Ostsee. Der Höhepunkt des Konzerts war „Everything Flows“ vom krachigen Debüt, das Teenage Fanclub an diesem Abend so zum Glühen brachten, dass einige vorm Weissenhäuser Strand kreuzende Kähne das Zelt kurzzeitig für ein Leuchtfeuer hielten.

Wer danach keine Erholung brauchte, konnte Howe Gelb im Baltic Festsaal zusehen, der seine Musiker wie ein Frank Zappa mit Cowboyhut durch seine struppigen Songexperimente führte. Nicht jeder Akkord saß anfangs dort, wo er hingehörte. Aber von Stück zu Stück spielten sich Giant Sand von kantigem Country in Richtung Jazz, sodass die Songs zur Grundlage mal berauschender („Monk’s Mountain“), mal subtiler (Rainer Ptaceks „The Farm“) Improvisationen wurden.

Parallel traten mit Tame Impala und den tollen Warpaint in Baltic Festsaal und Rondell zwei der Neuentdeckungen des Jahres auf. Die kalifornische Psychedelik Ersterer kommt in Wahrheit aus Australien, die tatsächlichen Kalifornier Warpaint klingen eher unterkühlt britisch. Die größte Überraschung: Auf der Bühne entwickeln die assoziativen, unkonventionell melodiösen Westcoast-Noir-Stücke der Band eine Dynamik, die man hier kaum vermutet hätte.

The National inszenierten ihr episches Pathos der Entfremdung dann so perfekt, dass sich viele Besucher um die Bandchemie sorgten. Beim vorherigen Fototermin hatten die auf der Bühne kaum miteinander kommunizierenden Musiker jedoch noch munter miteinander gescherzt, es handelte sich also bei den versteinerten Gesten um ein rein dramaturgisches Zugeständnis. Matt Berninger ist ja eine Autorität, das weiß man, und die Karriere dieser Band ein kleines Wunder – über Jahre immer noch ein Stückchen mehr gewachsen. Aber die erhabene Souveränität, mit der der Bariton auf der Zeltbühne durch ein Programm aus überwiegend neuen Songs führte, überraschte dann doch.

Nachdem sich der Sturm gelegt hatte, blieben die Wolken übrig – es war also, wie passend, eine fast mondlose Nacht, in der Element Of Crime zu einem interessanten Konzert einluden, das nicht ihrem gewöhnlichen Programm entsprach. Natürlich gab es all das, was man erwartet und unbedingt will: Trompete und Geige, Poesie und Rockmusik, Romantik und knarzige Ansagen, „Kaffee und Karin“. Auch ein paar Klassiker wie „Weißes Papier“ und neue Lieblingslieder wie „Bitte bleib bei mir“. Aber dazwischen: Das lange nicht mehr gehörte, so überraschend simple „Don’t You Smile“ mit der liebevoll wiederholten Anschuldigung „You fucked up your life“ – wohl kein Song, den die Elements heute noch schreiben würden, aber charmant war’s doch. Ganz nebenbei fiel wieder einmal auf, wie wunderbar zurückhaltend und doch zwingend Jakob Ilja Gitarre spielt und dass Richard Pappik beim Trommeln fast so glücklich aussieht wie Dave Young am Bass. Man muss es immer noch als großes Glück begreifen, dass sich diese vier Kauze gefunden haben. Element Of Crime beim ROLLING STONE-Weekender – das fand Sven Regener „stark“, und zu Ehren des maritimen Veranstaltungsorts kramten sie sogar mal wieder „Vier Stunden vor Elbe 1“ raus, um die Zuschauer schließlich, nach viel zu kurzen 100 Minuten, mit dem Sommer-Abschieds-Stück „Über Nacht“ in die spätherbstliche Nacht zu entlassen.

Der nächste Tag begann entweder mit einem Strandspaziergang, einem Ausflug ins Spaßbad – oder mit einer offenen Diskussionsrunde mit der ROLLING STONE-Redaktion und vielen Lesern und Interessierten, für deren reges Interesse und Fragen wir uns noch einmal bedanken möchten. Dieses Gespräch, wie auch die vielen über das ganze Wochenende verteilten in kleinerer Runde, haben einen intensiven Austausch ermöglicht, wie er im Redaktionsalltag selten möglich ist.

Am Kaffeestand gegenüber der Plattenbörse gab es zwischendurch die passenden, exzellenten Getränke, ehe man sich zum Bücherkreis abermals im Witthüs traf, wo zuvor bereits Frank Schulz und der per Skype zugeschaltete Fritz Rau gelesen hatten.

Thorsten Nagelschmidt, unter dem Namen Nagel früher Sänger der Punkband Muff Potter, war sicher heilfroh, dass er nachmittags um vier nicht als Rocker auftreten musste, sondern als Schriftsteller. „Was kostet die Welt?“ heißt sein zweiter Roman, die Geschichte einer Kulturenkarambolage: Ein biertrinkender Hänger strandet in einem Mosel-Nest mit weinseliger, geistig simpler Gesellschaft, muss in einer Mischung aus Fassungslosigkeit, Abscheu und soziologischem Interesse mit seiner Umwelt fertig werden und strebt dabei der Läuterung entgegen. Das Potential für Situationskomik, das in der Konstellation steckt, schöpft der Autor im Buch bis ins Letzte aus – so amüsant war dann auch die Lesung, die Nagel mit Foto- und Videoprojektionen vom Laptop ergänzte.

Das Problem an den vielen Bands ohne Bass, die vor einigen Jahren plötzlich aus dem Boden schossen, war ja, dass es ihnen live oft an Tiefe fehlte. Wie zum Beweis dieser These bestritten die Black Keys ihren Weekender-Auftritt zweigeteilt: Zunächst betraten Dan Auerbach und Patrick Carney wie gewohnt zu zweit die Bühne und spielten ausschließlich ältere Songs. Was in den kleinen Clubs funktioniert, in denen die Black Keys bis vor kurzem auftraten, im vergleichsweise großen Zelt jedoch ein bisschen verpuffte – Dasch-Trommel-Charme hin oder her. Als sie dann jedoch um einen Keyboarder und einen – jawohl: Bassisten! – ergänzt die Songs des üppiger instrumentierten aktuellen Albums „Brothers“ spielten, entfaltete sich erst die ganze Klasse dieser großartigen Band.

Für zwei der interessantesten Auftritte des Vorabends musste man sich dann abermals in den Baltic Festsaal zwängen, der für diese Namen schnell zu klein wurde: Get Well Soon, das Drama-Orchester des blassen Wunderknaben Konstantin Gropper, und die Tindersticks. Die Stehplätze wurden knapp, Pulli nach Pulli mussten um die Hüften gebunden werden – ein heißer Fleck! Gropper behielt Haltung, betonte, wie schön es sei, bei einem Festival nicht campen zu müssen − und erzählte seine an jungen Geistern wie Conor Oberst geschulten Leiden-des-jungen-X-Geschichten. Die Zapfhähne glühten und tropften.

Unglaublich, wie cool und lakonisch im Vergleich die Tindersticks wirkten. Die Aura des Verfalls, die über dem grob gemusterten 70er-Jahre-Teppich des Baltic Festsaal liegt, schien wie gemacht für das sonore Brummen des Boudoir-Philosophen Stuart Staples. Mit „Keep You Beautiful“ verbreiteten die Tindersticks Kurkonzertlaune und führten einen langsam über ein herrliches „Marbles“ und ein inniges „Sometimes It Hurts“ zu „A Night In“, dem Höhepunkt ihrer Ohrensesseldekadenz.

Nach den vielen Zuhörkonzerten erkundigte sich der Gaslight-Anthem-Sänger Brian Fallon beim Veranstalter, ob den Leuten seine Band überhaupt gefallen hätte. Tatsächlich evozierten Gaslight weitaus weniger euphorische Reaktionen als bei den vorangegangenen Konzerten vor ihrem Stammpublikum – und spielten vielleicht gerade deshalb die beste Show der Deutschland-Tournee. Fallon rackerte unablässig und entließ das Zeltpublikum mit einer tollen Interpretation des Pearl-Jam-Songs „Last Kiss“.

Wer noch die Kraft hatte, eilte zu einer Rarität – dem einzigen Deutschland-Auftritt der Cowboy Junkies in diesem Jahr. Die Kunst der Kanadier als handgemacht zu bezeichnen, ist eine Beleidigung, Margo Timmins eine begnadete Sängerin zu nennen eine Untertreibung. Anderthalb Stunden spielten sie sich in einen Sog und zelebrierten eine Meditation, ja eine Versunkenheit wie sie auch ihre frühen Platten „The Trinity Sessions“ und „The Caution Horses“ ausmachte. Alles zerfloss in den Melodien, die Margo Timmins mitunter wunderbar spröde in ihr Mikrofon hauchte.

Der Abend endete im Witthüs und es wurde eine lange Nacht. Dichtgedrängelt wurde der Ausklang des zweiten ROLLING STONE-Weekender gefeiert und erst als der Morgen graute, sanken die Letzten erschöpft in die Kissen.

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