Sting im Interview: „Natürlich bin ich gegen Corona geimpft – ich bin alt genug, um mich noch an Polio zu erinnern“

Mit „The Bridge“ veröffentlicht Gordon Sumner alias Sting sein 14. Studioalbum. Der Ex-Police-Sänger blickt darin auf sein Leben zurück: Er ist 70 geworden, sein langjähriger Tourmanager Billy Francis ist verstorben, und Sting widmet sich in den spirituellen Liedern Geistern der Vergangenheit, aber auch Wegen zur Erleuchtung. Ein Gespräch über den Tod, Atombomben und Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen.

Die Herausforderung einen großen Lovesong zu schreiben, sagen Sie über Ihre Single „If It’s Love“, bestünde nicht in der „Ich liebe Dich – Du liebst mich“-Erzählung, sondern im „ … aber Du liebst mich nicht.“
Ja!

Die Beatles zählten zu den ersten, die mit „From Me To You“ zu „She Loves You“ einen Perspektivwechsel einleiteten, oder?
Die Beatles hatten einen ähnlichen Background wie ich, Arbeiterklasse, und das hat mein Songwriting genauso beeinflusst wie den fast aller anderen Musiker. Liverpool und Newcastle sind nicht weit voneinander entfernt, die Beatles hatten eine vergleichbare Schulbildung wie ich und waren nur rund zehn Jahre älter. Sie eroberten die Welt, und ich hörte natürlich ihre Lieder und lernte. Eine Liebesbeziehung mit drei Dimensionen, also eine mit drei Menschen, ist selbstverständlich interessanter. Über Ihren Vergleich habe ich jedoch noch nie nachgedacht.

Sie pfeifen in dem Lied. Pfeifen klingt immer leicht, aber ist es nicht schwer, sie eine gelungene gepfiffene Melodie auszudenken, weil sie ohne Wörter auskommen muss?
Ich habe noch nie zuvor in einem Song gepfiffen! Auf meinem Album ist auch eine Coverversion von Otis Reddings „(Sittin‘ On) The Dock Of The Bay“, an deren Ende jemand pfeift, vielleicht hat mich das inspiriert. Ein Lied mit einem Pfeifen zu beginnen, das ist seltener als man denkt, im Englischen sagen wir zu diesem erhabenen Gefühl „whimsical“. Wir pfeifen alle, aber nur dann, wenn es uns gutgeht. Wie die sieben Zwerge. Mein Vater, ein Milchmann, pfiff bei der Arbeit, wenn er einen guten Tag hatte. Leute, die die Fensterscheiben putzen, pfeifen. Wer gerne arbeitet, pfeift – das ist Glück. Ich wollte, dass die Leute sich überrascht fühlen. „Hey, hier ist eine neue Sting-Single und hiermit geht sie los“ (pfeift) – „Äh, what?“.

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Aber das Album wird dann doch nicht mit „If It’s Love eröffnet! Zu riskant?
Ich wollte es nicht übertreiben, deshalb eröffnet „Rushing Water“ die Platte. Aber die Vorabsingle mit dem Pfiff ist das, was die Leute als erstes 2021 von mir hörten. Ich will die Leute doch überraschen. Das ist mein Job. Das Fundament jeder Kunst besteht in der Überraschung.

Sie gelten als Self-Made-Man, der sich vieles aufgrund einer von Chancenungleichheit geprägten Herkunft selbst beibringen musste.
Klar, das Pfeifen habe ich mir selbst beigebracht!

In vielen Songs, wie „Rushing Water“ oder dem früheren „History Will Teach Us Nothing“, geht es auch um die Auseinandersetzung mit akademisch gebildeten Experten.
Ich war nie gut in den Wissenschaften. Chemie und Physik sind jenseits meines Verstehens. Und doch fasziniert mich das alles. Unlängst las ich ein Buch über den Physiker Werner Heisenberg, der sich auf Helgoland mit Quantenmechanik beschäftigte und später am Uranprojekt beteiligt war. Von der Quantenmechanik habe ich vielleicht 15 Prozent verstanden. Aber ich bin fasziniert von dieser Grenze, die sich vor mir befindet. Und das ist das Paradox: Je mehr wir lernen, umso mehr schiebt sich diese Grenze von uns weg, droht aus unserem Sichtfeld zu verschwinden. Das eint Wissenschaft mit Kunst, denn Musik ist Wissenschaft: Je mehr man sich ihr annähern will, desto schwieriger ist es, sie zu begreifen.

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Ist es ein Vorteil, dass man sie nicht versteht?
Das Klischeebild des Wissenschaftlers ist das eines Mannes, der vor einer Schultafel mit lauter Gleichungen steht, die man nicht erfassen kann. Das hat etwas Mystisches an sich. Ich lese derzeit die Bücher Carlo Rovellis, eines italienischen Physikers, der Wissenschaften sehr poetisch beschreibt. Auf diesem Level komme ich leichter an die Materie ran. Und, natürlich, sie ist wichtig – ohne Wissenschaft kommen wir aus der Corona-Pandemie nicht raus.

Unter Musikern gibt es prominente Impfgegner: Eric Clapton, Van Morrison. Können Sie Ihren Einfluss gegenüber solchen „Querdenkern“ geltend machen?
Es ist doch nicht mein Job, Leute vom Nutzen einer Impfung zu überzeugen. Ich habe mich ohne Zögern impfen lassen. Allein deshalb schon, weil ich alt genug bin, um mich noch an Polio zu erinnern, Kinderlähmung. In meiner Straße lebten Kinder, die eine Lähmung erlitten – eine Krankheit, die später durch Impfungen ausgerottet werden konnte. Aber ich kritisiere weder Künstler noch andere Mitbürger dafür, sich nicht impfen lassen zu wollen. Es ist ihre Entscheidung. Mag sein, dass eine Impfung äußerst minimale Gesundheitsrisiken hat, aber Covid als Krankheit … die Leute sterben daran! Mehr als sechs Millionen Tote. Menschen, die einfach nicht tot sein dürften.

In „Harmony Road“ singen Sie von einer Kindheit in England mit Gewalt auf den Straßen. Wie autobiografisch ist das Lied?
Wallsend im Nordosten Englands war eine harte Stadt. Ob sie härter war als andere? Das weiß ich nicht, ich kannte keine andere. Aber ich wusste, dass ich wegwollte. Meine einzige Fluchtmöglichkeit sah ich in Bildung. Ich erhielt ein Stipendium für ein Gymnasium, in dem ich Dinge lernte, die für ein Leben in Wallsend nutzlos wären. Latein, Geschichte, Philosophie. Die einzigen Jobs in Wallsend bot die Werft, wo große Schiffe gebaut wurden. Oder die Kohlenmine. Ich hatte die Hoffnung in einer größeren Welt zu leben. Wenn ich an diese Umgebung zurückdenke, empfinde ich keinen Hass. Ich empfinde Anerkennung. Wallsend war der Motor, der mich zu dem machte, der ich heute bin. Es war ein zäher Ort, ich bin froh, das überstanden zu haben.

Sie sind Umweltaktivist und spielten 1984 in einem Streifen mit, der nicht nur von Science-Fiction, sondern von Umweltschutz handelt: David Lynchs Romanverfilmung „Der Wüstenplanet“. Warum haben das damals so wenige erkannt?
Ich habe das auch nicht erkannt (lacht). Nein, im Ernst: Ich habe die Rolle des Bösewichts Feyd-Rautha auch angenommen, weil ich sicher war, dass sie mir Spaß bereitet. Den neuen „Dune“-Film habe ich noch nicht gesehen.

Sie waren 1983 mit The Police und „Every Breath You Take“ der größte Rock-Star. Warum haben Sie für den Film keinen Song angeboten?
Weil ich nur als Schauspieler angestellt war! Sie haben mich nicht gefragt, ob ich ein Lied schreibe.

Bleiben wir noch kurz in den 1980er-Jahren. Ihr Back-Katalog wurde unlängst neu veröffentlicht, ihre Police-Alben genauso wie die Solowerke. Warum gibt es noch kein Reissue von „Bring On The Night“, dem Live-Album sowie Kinofilm?
Okay. Das werde ich mit meinem Manager und der Plattenfirma besprechen. Das war eine großartige Live-Band. Kenny Kirkland … wir haben ihn verloren, er starb 1998. Darryl Jones war toll, Omar Hakim, Branford (Marsalis).

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Auch auf „The Bridge“ sind alte Weggefährten vertreten: Dominic Miller und Manu Katché. Spielt man mit etablierten Kollegen zusammen, weil man weiß, dass die Maschine gut geölt ist, oder gerade, weil man mit Freunden mutiger wird?
Wir kennen uns seit 30 bis 40 Jahren. Sie wissen, was ich wolle. Und ich weiß, was sie mir geben können. Wir müssen gar nicht so viel besprechen. Ich zeige ihnen einen Song, danach kommen die Ideen wie von allein. Ich nahm die Platten in fünf verschiedenen Städten in verschiedenen Ländern auf, mit einem mobilen Heimstudio, über einen Zeitraum von zwei Jahren. Da war es hilfreich, dass man sich nicht erst kennenlernen muss. „Was soll ich jetzt spielen?“, das ist nicht das, was ich hören will. Ich sage lieber: „Tu das, was Du kannst, was ich von Dir kenne!“. Ich präsentiere den Rahmen, dazu Ideen. Kreativ werden, das sollen sie von allein. Sie haben einen Anteil am kreativen Prozess.

In Las Vegas haben Sie eine Residency, spielen an vielen Abenden ihr Programm „My Songs“. Gibt es Stücke, denen Sie sich nicht mehr nahe fühlen?
Ich betrachte es durchaus auch als Job, Lieder zu singen, die ich vor 40 Jahren schrieb. Mit derselben Leidenschaft, derselben Faszination. Aber ich versuche, Kleinigkeiten an den Songs zu ändern. Manchmal auch nur für mich, nicht für den Hörer. Ein bisschen am Tempo schrauben, an der Melodie, den Harmonien. Lieder sind keine Museumsstücke, sie entwickeln sich weiter. Es gibt keinen Grund, sie stets gleich klingen zu lassen. Ich will sogar, dass ein Song von heute in sechs Monaten ganz anders klingt. Das ist wie Jazz, meine Lieder haben diesen Aspekt des Jazz.

Was ist das „Book of Numbers“, das „Buch der Nummern“, von dem Sie in Ihrem neuen Album singen?
Das „Buch der Nummern“ beschreibt eines der ersten fünf Bücher der Bibel. Die Israeliten befinden sich in der Wüste, auf der Suche nach dem Heiligen Land, 40 Jahre lang. Das „Buch der Nummern“ war wie ein Katalog, in dem alle Menschen gelistet wurden, die diese Reise auf sich nahmen, es enthielt aber auch die Aufzählung von Proviant und Tieren, wie ihren Ziegen. Metaphorisch lässt sich diese Geschichte als Beginn der Mathematik deuten. Tatsächlich handelt mein Song von Robert Oppenheimer. Er erfand die Atombombe. In dem Lied geht es darum, wie sein Geist die Wüste von Los Alamos in New Mexico heimsucht.

Wie könnte man denn auf eine derartige Interpretation des Songs kommen!
Ja, ich habe das ein wenig versteckt. Mich fasziniert Oppenheimer. Er wird als menschenfreundlicher Mann beschrieben, und dennoch erfand er diese schreckliche Massenvernichtungswaffe. Wie passt das zusammen? Er soll es selbst wie eine Folter empfunden haben, für den Bau der Atombombe verantwortlich zu sein. Der Song „The Book of Numbers“ wurde inspiriert durch jene Filmaufnahme, in der Oppenheimer aus der Schrift des Hinduismus zitiert, der Bhagavad Gita: „I am become death, the destroyer of worlds“. Oppenheimer sieht darin aus wie ein Geist. Das Lied dreht sich also um den Beginn aller Mathematik, und wer mit ihr spielt, kann irgendwann auch auf die Kernspaltung kommen und landet bei der Bombe. Es geht hier um das Bedauern, wohin uns die Wissenschaft geführt hat – dass wir uns mit ihrer Hilfe auslöschen.

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Trifft der Erzähler in „The Hills on the Border“ auf Gevatter Tod?
Ha, nein. Ich wuchs an der Grenze zu Schottland auf. Die Hügel dort sind von Geistern heimgesucht, sagt man zumindest. Könnte daran liegen, dass es dort einst sehr viele Gefechte gegeben hat. Viele Menschen ließen dort ihr Leben, viele wurden geköpft. In „The Hills on the Border“ geht es um das Treffen mit einem Lebewesen, das zwischen den Welten steht, zwischen Leben und Tod. Es geht um ein Angebot, einen neuen, anderen Ort zu erschließen. Es ist eine klassische „Ghost Story“, die sich um die Frage dreht, ob man seinem Gegenüber vertrauen kann.

Wer ist der von Ihnen besungene „Captain Bateman“?
Eine britische Folklore-Figur aus dem 12. Jahrhundert. Ein Soldat, der in einem fremden Krieg kämpfte und gefangen genommen wurde. Er bekam lebenslänglich, aber verliebte sich in Gefangenschaft in die Tochter eines Seemanns. Er verspricht ihr, sie zu heiraten, wenn sie ihn befreit. Er lügt sie natürlich an. 21 Verse hat das Lied, ich habe es umgeschrieben und verdichtet auf sieben Verse. Mich hat die Geschichte eines gebrochenen Versprechens gereizt. Ich zitiere die Ballade zum Teil, singe „thee“ statt „they“.

Der Titelsong dreht sich um eine „Brücke“. die zu einem spirituellen Ort führt. Welchen Ort möchten Sie noch aufsuchen?
Ich weiß nicht, wie man „spirituell“ beschreiben soll. Ich bin halt neugierig. Ich will wissen, warum wir hier sind. Was ist dieses Leben hier? Warum sitzen wir beide in diesem Raum? Die Erde ist ein einsamer Planet, so weit weg vom nächstbewohnbaren, so weit weg von der nächsten Sonne. Also, was zur Hölle machen wir hier? In mir bohrt diese Frage. Ich will das Leben nicht einfach so hinnehmen.

Dachten Sie als Kind über den Sinn des Lebens nach?
Ich war damals schon neugierig. Ich wuchs auf in einer surrealen industriellen Umgebung, wohnte direkt neben einer Werft, in der gigantische Schiffe gebaut wurden. Tausende Leute gingen dort zur Arbeit. Ich dachte: What the fuck is this? Gehöre ich wirklich hierher? Dieses Gefühl hatte ich immer: nirgendwo hinzugehören. Es hat sich nicht geändert.

Sie haben kein Zuhause?
Mein Zuhause ist da, wo ich ein Buch habe. Wo meine Frau ist, meine Kinder. Wo Gemälde sind. Ich habe also ein Zuhause, aber ich fühle mich wurzellos, zumindest im existenziellen Sinne. Gestern schlief ich im Bus!

Sie haben das Album ihrem langjährigen Tourmanager Billy Francis gewidmet, der im vergangenen Jahr an Krebs starb. In dem früheren Stück „50,000“ singen Sie bereits davon, wie die Einschläge näherkommen. Sie sind 70 Jahre alt – fällt Ihnen das Schreiben über Verstorbene heute leichter als früher?
Nun, wenn man älter wird, gibt es einfach mehr Verstorbene im privaten Umfeld. Als junger Mensch passiert einem das nicht so oft. Die Großmutter stirbt, der Großvater … heute sieht das für mich anders aus. Schulfreunde sind tot, Billy, und mein Dad. Ich kannte Billy 40 Jahre lang. Irgendwie ist er hier, mit mir, wenn auch nicht in Person. Sein Spirit ist hier. Sterblichkeit ist das vielleicht interessanteste Song-Thema überhaupt. Wir alle werden uns dem stellen müssen, völlig egal, wie jung jemand ist.

Als Ihr Vater 1987 verstarb, erlitten Sie eine Schreibhemmung und veröffentlichten für vier Jahre kein Album.
Ich empfinde beim Gedanken an den Tod Angst, so wie jeder andere Mensch auch. Man ziert sich, die Sache gedanklich anzugehen. Wenn es gelingt, den Tod zu akzeptieren, offenbart sich diese Akzeptanz als Geschenk für jeden Autor, jeden Songwriter. Der Tod bietet einen reichen Schatz an Bildern, an Wörtern, von denen man sich inspirieren lassen kann. Man entkommt dem Tod nicht, und dem Tod als gedankliches Thema auch nicht.

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