TAUCHGANG IN DIE SEELE

ZWEI TAUCHER RISkierten ihr Leben, als sie vor über zwanzig Jahren ein deutsches U-Boot entdeckten, das im zweiten Weltkrieg 60 Meilen vor der Küste von New Jersey gesunken war. Richie Kohler und John Chatterton ergründeten das Wrack des U-869 und seine Historie mit fast fanatischem Enthusiasmus. In der Isolation unter Wasser ließen sie sich ganz auf die unheimliche Abgeschiedenheit im Inneren eines U-Boots ein – ein Gefühlsabgrund, den Neko Case auf ihrem neuen Album „The Worse Things Get “ präzise auslotet.

Für sie wurden das U-Boot und die Reise ins Dunkel zu einem Symbol für die Depression und tiefe Traurigkeit, in die die Sängerin aus Vermont nach dem Tod ihrer Mutter vor etwa zwei Jahren fiel. „Ich hatte das Gefühl, da unten auf dem Meeresgrund zu sein und jeden Kontakt zur Außenwelt verloren zu haben“, sagt Case. „Aber ich musste da runter und herausfinden, was es mit mir auf sich hat.“ Und so stieg Case hinab in die Tiefe der eigenen Seele wie Kohler und Chatterton in das U-869, bahnte sich einen Weg durch die versunkenen Räume und ergründete ihre eigene Trauer.

Schon in den Gesprächen zu ihrem letzten Werk, „Middle Cyclone“ von 2009, deutete sich dieses Thema an. Damals war Cases Vater gestorben, und die Sängerin sprach schonungslos davon, wie es ist, als ungewolltes Kind bei Eltern aufzuwachsen, die vom Leben überfordert sind und es zu hassen beginnen. Das war ihre Kindheit in den 70er-Jahren -Cases Eltern waren aus der Ukraine ausgewandert und versuchten erst in Alexandria, Virginia, dann im Nordwesten der USA Fuß zu fassen. Doch Cases Vater hatte Alkoholprobleme und die Familie litt unter schlimmer Armut. Die Eltern trennten sich, als Neko Case sechs Jahre alt war. Mit 15 zog sie im Keller einer befreundeten Familie in Tacoma ein, machte bald darauf ihren Highschool-Abschluss und ging nach Vancouver, um Kunst und Design zu studieren. Viel in ihrer ungewöhnlich klischeefreien Musik und poetischen Lyrik zeigt diese Nähe zu den bildenden Künsten.

Allein sein, aus eigener Kraft etwas hinkriegen müssen, das ist das Lebensmotto von Neko Case, for better or worse. „Wenn dich deine Eltern nicht lieben und du früh auf dich allein gestellt bist, lebst du wie ein streunender Hund in einem Woher-kommt-meine-nächste-Mahlzeit-Modus“, sagt Case heute, „es ist schwer, da wieder rauszukommen.“

Als vor zwei Jahren erst Cases Mutter und dann ihre – im Gegensatz zur Mutter geliebte – Großmutter starben, begann für die Künstlerin der Kehraus. „Ich fühlte mich, als würde mein Kopf in einer Plastiktüte stecken. Man sieht die Menschen, aber man hat keinen Kontakt zu ihnen und verlernt alle zwischenmenschlichen Fähigkeiten. Ich musste mich auseinandernehmen und Stück für Stück wieder zusammensetzen, so gut es eben ging. Das war ziemlich mechanisch, wie ein Auto, das man reparieren muss. Es hat mich zu Tode erschreckt, aber es war nötig.“ Case spricht auch heute schonungslos offen, aber auch ein bisschen widerwillig -als habe sie Angst, prätentiös zu klingen. „Ich sage nicht, dass das alles etwas Besonderes ist; viele Menschen lieben ihre Eltern, viele tun es nicht. Das ist alles seltsam, aber irgendwann muss man sich mit der eigenen Trauer auseinandersetzen. Für einen Herzinfarkt bin ich zu gesund, deshalb musste ich es auf anderem Weg tun.“

Case, die in Vermont auf einer Farm lebt und während des Gesprächs zwischen ihren Hühnern sitzt und Unkraut jätet, nimmt die Dinge gern selbst in die Hand. Das sieht und spürt man an ihrem selbstsicheren Ton und dem souveränen Auftritt; das lange feuerrote Haar und die große Gestalt tun das Übrige. „Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man ein selbstbestimmtes, reflektiertes Leben führen oder sich drücken und stumpf teilnehmen will“, erklärt Case. „Ich wollte das Erste und hab mir gesagt, dann wirst du jetzt jede Sekunde dieses Schmerzes erleben. Ich bin froh, dass ich nicht ausgewichen bin; ich bin mutiger geworden.“

Mutiger geworden ist Case ja aber vielleicht auch, weil ihr letztes Album so erfolgreich war. Auf „Middle Cyclone“ war Case die Amazone, die auf der Kühlerhaube eines 1967 Mercury Cougar in den Kampf zog, die Sirene, die im Traum zu uns spricht, der Tornado, der uns liebt, und ein wildes Tier, ganz Instinkt und Intuition. (Tiere und Tierschutz sind zwei von Cases großen Leidenschaften.) Die Platte war ein kleines Wunder und setzte die mit Abstand meisten Tonträger dieser Karriere um. Die eingeweihte Gemeinde hatte ihr da ohnehin schon eine Ausnahmeposition eingeräumt -ob als Sängerin der New Pornographers oder als kreative Gespielin von M. Ward, Calexico, T-Bone Burnett und Nick Cave: Cases außergewöhnliche künstlerische Identität und Integrität bezirzt viele. Zu Recht. Es gibt niemanden, der so singt wie Neko Case, deren Stimme sich wundervoll stolz und bestimmt und sanft und klar über die Musik erhebt.

Auch auf dem in der August-Ausgabe des ROLLING STONE gefeierten Album von John Mellencamp, T-Bone Burnett und Stephen King (!), eine dezent gruselige Revue über einen Brudermord, ist Cases Beitrag ein Höhepunkt. „Mit T-Bone aufzunehmen, ist eine Ehre. Er hat diese magische Produzentenqualität, der ich blind vertraue. Außerdem umgibt er sich immer mit sehr freundlichen Menschen, Meister ihres Fachs, die leidenschaftlich mit ihrer Gabe umgehen. Das ist immer, als würde man an einer sehr teuren Meisterklasse teilnehmen. Er ist ein wahrer Künstler.“ Burnett sagt über Case dasselbe. „Außer der Musik verbindet uns aber auch eine riesige Leidenschaft für Eistee mit Limonade“, lacht Case: „,Noch eine Flasche Arnold Palmer, Neko?‘ – ,Natürlich noch eine Flasche Arnold Palmer, T-Bone!'“

Der Erfolg von „Middle Cyclone“ hob das kleine Musikunternehmen Neko Case auf eine neue Ebene. Größere Hallen, Billboard-Top-Ten, Soundtrack-Beiträge. Gut so?“Der Erfolg bedeutete vor allem, dass ich viel mehr zu tun hatte“, sagt Case, „man kann mehr Personal einstellen, aber um die Wachstumsschmerzen kommt man nicht herum. Man stößt an die eigenen Grenzen und muss um Hilfe bitten. Man muss Arbeit delegieren. Man merkt, dass jemand keinen guten Job macht, oder dass jemand eine Gehaltserhöhung verdient, oder dass man mehr Klopapier im Tourbus braucht.“ Fällt Klopapier nicht in den Aufgabenbereich eines Tourmanagers?“Ja, aber wenn man jedes Mal einen anderen hat, arbeitet man ständig jemanden ein. Man entspannt sich einfach nie und lässt nicht zu, dass sich auch mal jemand um einen kümmert. Heute musst du deine Eisentabletten kaufen, Soundcheck ist um fünf, solche Sachen.“ Danach befragt, was das Beste am Erfolg des Albums gewesen sei, zögert Case – und kommt auf den oben beschriebenen Kehraus zurück. „Das Beste war, dass ich erfahren habe, dass man ein vollständig entwickelter Mensch sein kann, auch wenn man als Kind von seinen Eltern nicht geliebt wurde.“

Das neue Werk entstand im Gegensatz zu „Middle Cyclone“ nicht in Cases Haus in Vermont, sondern in Tucson. Produzent Craig Schumacher, ein Freund aus den Tagen, als Case dort lebte, erholte sich von einer (schließlich besiegten) Krebserkrankung, weshalb die basic tracks in seinem WaveLab-Studio aufgenommen wurden. Wie es werden sollte, wusste Case vorher nicht. „Vielleicht hatte ich ein paar große Ideen, wie das alles klingen könnte, aber im Grunde habe ich nie eine Ahnung, was passieren wird. Eine Platte offenbart sich dir in der Regel, wenn sie zu etwa zwei Dritteln fertig ist. Ich musste lernen, das hinzunehmen und der Musik zu vertrauen. Das ist manchmal etwas nervenaufreibend, aber es hat auch etwas Gutes: Man wird von der Musik überrascht. Vielleicht bin ich müde von einem Song oder weiß nicht mehr, was an ihm gut sein soll, aber dann singt Kelly (Hogan, Background-Sängerin von Neko Case -Red.) eine zweite Stimme, und alles ist anders.“

Cases neue Songs thematisieren auf zum Teil schmerzhafte Weise ihre Seelenreparatur -am dichtesten in dem bedrückenden U-Boot-Lied „Where Did I Leave That Fire“ – doch die Musik geht nicht auf Tauchstation. Kräftige Rock-Riffs, voluminöses Schlagzeug:“The Worse Things Get, The Harder I Fight, The Harder I Fight, The More I Love You“ – so der vollständige Titel des neuen Albums – klingt entschieden und direkt, und zeigt bis zum hoffnungsvollen Finale (das hymnische „Ragtime“) deutliche Spuren eines Kampfes. Etwa im Eröffnungsstück „Wild Creatures“, das in der Mitte kurz ins dissonante Chaos stürzt. Oder bei „Night Still Comes“, einem nocturnal shuffle, der mal lauert wie eine Raubkatze, dann summt wie ein Kinderlied. In der Mitte des Albums addiert ein Cover von Nicos „Afraid“ eine hoffnungsvolle Stimme zum Repertoire. Und der Uptempo-Powerpop „Man“ hätte glatt auch den New Pornographers einfallen können; jedenfalls erinnert er an Cases Jahre in Vancouver, als sie mit lokalen Punkbands erste musikalische Schritte ging. In dem Lied ist Case die Frau, die ihren Mann steht, die Musik drängt und kämpft und mündet in ein quietschendes Fuzz-Solo von M. Ward.

Der ist freilich nur einer von vielen Gästen, die Case einlud, einen Beitrag zum Album zu leisten. Mitglieder von My Morning Jacket schickten Download-Links, Calexico, Los Lobos und The New Pornographers kamen nach Tucson oder Portland, wo Case mit Tucker Martine vor allem Gitarren und Keyboards, aber auch einige Lead Vocals aufnahm. Andere Musiker bzw. Produzenten besuchte Case in deren Studios u. a. in New York City (Carl Newman) und in Toronto (Darryl Neudorf).“Ich muss in Bewegung bleiben, weil ich regelmäßig panisch werde und mich selbst nicht mehr hören kann. Was soll denn das sein, wer soll sich das anhören -von sich selbst die Nase voll zu haben, kann während einer Produktion anstrengend werden. Dann suche ich mir eine neue Perspektive.“

Eine neue Perspektive soll auch der als Sequel angelegte Nachfolger von „The Worse Things …“ haben, für den die Songs bereits geschrieben und zu einem kleinen Teil aufgenommen wurden. „Ich habe keinen sehr hohen Output, da hebe ich die Lieder lieber auf“, sagt Case, „kann sein, dass ich noch anderes Material schreibe, aber ich möchte, dass dieses und das nächste Album etwas miteinander zu tun haben, wie eine Erzählung in zwei Teilen. Keine Angst: Es wird nicht meine Version von ‚Use Your Illusion 1 &2‘.“

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