Und es hat Klick gemacht!

Damals, in den goldenen Achtzigern, war nicht nur das Anzeigenvolumen des SPIEGEL gewaltig. Sehr zum Ärger von Rudolf Augstein hatte der „New Journalism“ Einzug gehalten in Deutschlands Nachrichten-Magazin, und die Reporter ließen ihrem Ego derart freien Lauf, dass die Meldungen in einem Meer von meinungsmachenden Impressionen versanken. (Oder wollte man wirklich glauben, dass die Edelfeder vom SPIEGEL anwesend war, als „Außenminister Hans-Dietrich Genscher müde die Pantoffel unters Bett seines Hotelzimmers schob“?) Dank der überbordenden Anzeigen war auch der Heftumfang gewaltig, und irgendwie wollten die vielen Seiten schließlich gefüllt sein.

Augstein, der die sachliche Anonymität des englischen „Economist“ schätzte (bei dem Autoren-Nennungen verpönt und die Textlängen überschaubar sind), konnte den Zug der Zeit nicht mehr aufhalten und musste mit ansehen, wie in München ein journalistischer Erbsenzähler die Fehlentwicklung richtig diagnostizierte – und mit seinen fantasielosen „Fakten, Fakten, Fakten“ dem selbstreferenziellem Spuk ein Ende bereitete. So wie bei Karl Marx das Sein das Bewusstsein bestimmt, so ermöglichten erst die prallen SPIEGEL-Bilanzen einen Journalismus, der ohne das ökonomische Umfeld nicht denkbar gewesen wäre.

Heute, lehrt uns Medien-Professorin Miriam Meckel, „setzt eh nicht mehr der SPIEGEL, sondern Spiegel Online die Agenda“. Eine steile These, vor allem angesichts des wuchernden Yellow-Press-Quarks auf der Homepage, aber zumindest in einem Punkt hat SPON die digitale Nase ganz weit vorn: Welcome to the micro-cliffhanger. Auf deutsch: Klick mich, oder du bleibst ein Depp.

Und das geht so: „Leverkusens Torjäger Kießling gehört zum DFB-Aufgebot für die kommenden Testspiele. Joachim Löw machte außerdem einem jungen Werder-Profi Hoffnungen.“ (Ja, wer mag es denn wohl sein? Wenn ich jetzt klicke: Erfahre ich dann, dass es tatsächlich Aaron Hunt ist?) Oder: „Westerwelle ließ die Ministerriege jubeln – nur einer wirkte seltsam abwesend.“ (Eh alles nur Dödel, wir sparen uns den Klick.) Oder: „Das Team von Joachim Löw trifft in der WM-Vorrunde zunächst auf Australien, dann auf Serbien und auf Ghana. Am meisten Sorgen dürften der DFB-Elf dabei ein ehemaliger Hertha-Stürmer, ein australischer Angreifer sowie ein Star vom FC Chelsea bereiten.“ (Auch wenn wir diesmal mit einem Klick gleich drei Geheimnisse lüften: Es nervt. Verpiss dich.) Schon Königin Scheherazade wusste um die Macht des Cliffhangers, als sie 1001 Nacht lang eine never-ending Mär ersonn, um so der Enthauptung am nächsten Morgen zu entgehen. In der, Serienromanen des 19. Jahrhunderts hatte der Cliffhanger Hochkonjunktur, auch wenn der englische Romancier und Literaturtheoretiker Anthony Trollope schon damals warnte, dass diese Praxis „das Vertrauen zwischen Schreiber und Leser unterminiert, weil Erwartungen geschürt werden, die nie eingehalten werden“.

Die Warnung wurde in den Wind geschlagen. In der Stummfilm-Ära hing der Protagonist oft genug nicht nur an der sprichwörtlichen, sondern an einer sehr realen Klippe (daher der Terminus „Cliffhanger“) – und der Zuschauer fragte sich bangen Herzens, ob der gute Mann denn auch in der nächsten Episode da noch baumeln würde. Das amerikanische Fernsehen kreierte genialische Chffhanger („Dallas mit „Who shot J.R.“), aber auch unfreiwillige Komik wie bei „Twin Peaks“: David Lynchs TV-Serie galt vielen als mysteriöses Meisterwerk, gerade weil die Figuren und Handlungsstränge so nebulös blieben. Ein Teil des Faszination hatte allerdings einen erschreckend banalen Hintergrund: Die Einschaltquoten waren so mau, dass ABC, der auftraggebende Sender, eine bereits geplante Staffel kurzfristig absagte – und nun der Cliffhanger selbst in der Luft hing.

Auch im Radio kamen die Klippenhänger aus den USA. Fritz Egner, der sein Handwerk bei AFN gelernt hatte, war wohl der erste deutsche Moderator, der konsequent kopierte, was Casey Kasem mit seinen „American Top 40“ perfektioniert hatte. Plötzlich hieß es nicht mehr: „Und nach der Werbung hören wir Phil Collins mit seiner neuen Single“, sondern: „…die Single eines Mannes, der das Unmögliche schaffte, an einem Tag gleichzeitig auf zwei Kontinenten aufzutreten“.

Lernen wir also, damit zu leben, dass nun auch der digitale Cliffhanger in unseren Alltag tritt und – SPON sei dank – auch im deutschen Journalismus Wurzeln schlägt. Und ja, auch wir können uns dieser Entwicklung nicht verschließen. Wir sehen uns wieder im nächsten Heft am selben Ort, wenn es um die zierliche Brünette mit den großen Brüsten geht, die als Moderatorin des ZDF-Sportstudios heiß gehandelt wurde, nach dem Bekanntwerden einer Affäre mit Tiger Woods aber lieber nach Australien auswanderte, um dort…

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