Unfrieds Urteil: Merkel, Kardashian, Guardiola – wer ist vorne dran? Die Polit-Top-Ten 2015

Die üblichen Jahrescharts blicken nach hinten, doch diese Charts blicken nach vorn: Wer denkt oder macht Neues und Zukunftsfähiges?

1. Anpackende Bürgergesellschaft

Die große Frage für 2016 lautet: Was für eine Gesellschaft wollen wir sein? Eine möglichst offene – oder eine möglichst nicht offene? Letzteres favorisiert eine geistige Allianz aus Rechtsradikalen, Rechtspopulisten, CSU-Protagonisten, Teilen der CDU und ängstlichen Kleinbürgern aus Union-, SPD- und Linksparteimilieus. Dagegen steht eine große Mitte der Bürgergesellschaft, die sich alten Ideologie- und Lagerzuordnungen entzieht und Zukunft und Öffnung ermöglicht, indem sie einfach anpackt, macht und hilft.

2. Bundeskanzlerin Angela Merkel

Meistgehörter Satz des Jahres: „Ich bin ja eigentlich kein Freund von Angela Merkel, aber…“ Mit dem erstaunlichsten Relaunch seit Saulus hat sich Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik neu erfunden. Oder anders gesagt: Die Einstellung der Linksliberalen ihr gegenüber hat sich radikal verändert. Merkel hat mit ihrer Let’s get real-Haltung Teile ihrer Partei und Alt-Wähler verstört und auch die EU, aber genau dadurch ist sie nun nach Jahren des gesellschaftlichen und diskursiven Stillstands anschlussfähig für neue Allianzen.

3. Jonathan Franzen

Franzens Roman „Unschuld“ („Purity“) ist nicht nur als Warnung vor dem digitalen Totalitarismus zu verstehen. Es geht nicht ritualisiert gegen global agierende Unternehmen und die ihnen assistierenden Politiker. Nein, es ist eine Warnung vor dem Streben nach Reinheit (englisch: purity) und vor denjenigen, die so tun, als seien sie übermenschlich im Namen der Weltrettung unterwegs – gegen Überwachung, für Aufklärung, für unabhängigen Journalismus, für die sozialökologische Transformation. Reinheit ist das Gegenteil von Menschlichkeit und auch das Gegenteil von Freiheit. Die Leute, die Reinheit predigen, schaffen Totalitarismus. Das Streben nach absoluter Reinheit zerstört das eigene Leben und das der Menschen, die man zu lieben vorgibt. Gelebte Moral ist immer gebrochen.

4. Harald Welzer

Die lange Jahre vakante Stelle des Public Intellectual in Deutschland ist jetzt von Welzer besetzt worden; dem Sozialpsychologen, Klimakulturforscher und Bestsellerautor aus Potsdam. Das ist kein Zufall, sondern liegt daran, dass er als einer der noch Wenigen den neuen Kanon der zukunftsentscheidenden Bereiche bearbeitet, die über die großen Fragen der Freiheit und Gerechtigkeit entscheiden, speziell Klimawandel und Digitalisierung. Das Entscheidende: Er denkt nicht von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts aus, sondern er denkt aus der Zukunft zurück in die Gegenwart, um dadurch handlungsfähig zu werden. Als Co-Initiator von „Welches Land wollen wir sein?“ will Welzer 2016 die anpackende Bürgergesellschaft (siehe 1) nachhaltig machen. „Es sollen nicht Intellektuelle das Thema vorgeben, sondern alle sollen reden“, sagt er. Und zwar analog.

5. Kim Kardashian

Kardashian gilt ja als blöde Selfie-Queen, aber das verkennt das Entscheidende. In einer großartigen Titelgeschichte in der US-Ausgabe des ROLLING STONE hat sich eine Autorin in diesem Jahr auf Kardashian ernsthaft eingelassen. Damit gezeigt, was vorurteilsfreier Journalismus Großartiges leisten kann. Und herausgearbeitet, was das wirklich Vorbildliche an Kardashian ist: Dass sie nämlich im Einklang mit sich selbst ist, weil sie das Leben führt, das sie führen will. Man kann die Sinngebung scheiße finden (berühmt sein, heiss sein, Geld haben, shoppen gehen, komplett um sich kreisen). Aber man muss anerkennen, dass es innerhalb dieser Sinngebung ein glückendes Leben ist. Sie kriegt vom Leben, was sie vom Leben will. Wer dagegen sagt, er wolle nicht berühmt und heiss sein und kein Geld haben und auch nicht shoppen gehen, der kennt sich schlecht und ist sehr wahrscheinlich echt mies drauf, wenn er das vom Leben dann auch tatsächlich kriegt.

6. Neil Young

Neil Young ist vorn dran, weil er sich eben genau nicht darum schert, wie die allgemeine Befindlichkeitsszene „vorn“ definiert, sondern selbstbestimmt auf die Realität reagiert. Wenn Young, 70, den Eindruck hat, das Problem sei nicht nur der Biotechnologie- und Pestizid-Konzern Monsanto, sondern eben auch Leute, die apathisch zusehen, dann haut er „The Monsanto Years“ raus, eine politische Kunst, die sich nicht auf das Anprangern von Corporate America reduziert, sondern das in den Kontext einer unpolitischen Gesellschaft stellt. Und der Schlachtruf „Monnnnnn-sannnnnn-toooooooo“ in „A Rockstar Bucks A Coffee Shop“ ist das beste Refrain-Trikolon seit „Wig Wam Bam“ (1972).

7. Josep Guardiola

Kein Trainer hat die Fußballbundesliga je so dominiert und so beeinflusst wie der Katalane Guardiola. Die Ernsthaftigkeit seines Arbeitsethos bereitet immer mehr Old School-Fans und Unterhaltungskonsumenten Unbehagen, weil das den Fußball erneuert hat – und dazu geführt, dass der FC Bayern in Deutschland nur einmal im Halbjahr zu schlagen ist. Deshalb sind manche jetzt froh, dass er im Sommer geht. Aber genau dieser Ethos ist das verschränkende Moment, das aus grandiosen Individualisten das womöglich beste Team der Gegenwart macht.

8. Frank-Markus Barwasser

Der Kabarettist Barwasser war in der Rolle des „Erwin Pelzig“ der beste Politiker-Interviewer des deutschen Fernsehens. Das liegt einerseits am öffentlich-rechtlichen Talkshow-Elend. Aber eben auch daran, dass Barwasser mit ZDF-Sendung „Pelzig hält sich“ nicht nur gute Unterhaltung machte, sondern ihm auch solitäre Gespräche gelangen. Weil er eben keine Stuhlkreise versammelte, in denen ritualisiert jeder das sagt, was er immer sagt. Sondern längere Eins-zu-Eins-Gespräche führte, in denen Politiker auch ein Risiko eingehen mussten. Manchmal schienen Momente der Aufklärung auf. Bezeichnend, dass die Zukunft im Dezember zu Ende ging und Böhmermann im ZDF bisher erst nach Mitternacht ran darf.

9. Stuttgart

Hat Berlin-Kreuzberg als Ort abgelöst, der linksgrünes Leben definiert. Es versteht sich von selbst, dass Kreuzberg das selbstverständlich nicht mitkriegen wird.

10. Kacey Musgraves

Im Text ihrer 2015er Single „Biscuits“ hat die texanische Popmusikerin Musgraves (früher hätte man gesagt: Countrysängerin) einen wegweisenden Gedanken formuliert, den ich als Leitgedanken für 2016 nehme. Und den ich hiermit auch all meinen Kritikern zurufe: „Pissin‘ in my yard ain’t gonna make yours any greener“.

Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de. Nur zwischen den Jahren pausiert er – bis 5. Januar.

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