Wagnis der Einfachheit

Auch für seine jüngste Geschichten-Sammlung "Handy" wird Literat Ingo Schulze beinahe einhellig als Meister der deutschen Gegenwarts-Prosa gefeiert

Der von mir vorgeschlagene Gesprächstermin auf der Leipziger Buchmesse platzt, also einigen wir uns auf eine lockere Mail-Konversation. Schulze hat einfach zu viel zu tun in diesen Tagen, Lesungen und Interviews im Halbstundentakt. Als ich ihm dann doch zufällig in den Weiten der Messehallen begegne, nimmt er sich einfach ein paar Minuten, die er eigentlich nicht übrig hat. Immer wieder defilieren Menschen an uns vorbei, die ihm mit halb verschämten, bisweilen auch penetranten Kommentaren zeigen wollen, dass sie ihn erkannt haben. Schulze ist Profi, vor allem aber ein herzensguter Charakter, und so nimmt er die Devotionen stets mit einem amüsierten Lächeln hin. Sogar als eine blonde Französin stehenbleibt („Oooooh, the man from the newspaper!“) und ihm ihre Visitenkarte zusteckt, weiß er diese Situation mit einem kleinen Scherz vor der Peinlichkeit zu retten.

Gerade ist sein neuer Erzählungsband erschienen, „Handy“ dreizehn Geschichten in alter Manier“, und sogleich hat er den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse eingefahren. Schulze ist Aufmacher der meisten Literaturteile, und die Elogen allenthalben klingen fast ein bisschen zu euphorisch. Das Buch ist gut, aber ob es gleich der „Höhepunkt seines Könnens“ sein muss, wie man mehrfach lesen konnte? Fast ist man dankbar für Martin Krumbholz‘ wirklich einmal kritische Kritik in der „Neuen Zürcher Zeitung“, der manches durchaus auch etwas „verschwafelt“ findet und eine gelegentliche „Weitschweifigkeit“ zu monieren hat. Das stimmt nämlich auch.

Auf Ingo Schulze können sich scheinbar alle einigen. Das liegt zum einen an der spielerisch-intertextuellen Erzählweise, die seine Bücher fortlaufend mit Referenzwerken der Literaturgeschichte unterfüttert, die aber nicht streberhaft auf die eigene Kunstfertigkeit hinweist, sondern immer auch eine einfache Lektüre zulässt. Und es liegt auch an seinem großen Thema: dem Zusammenbruch des Sozialismus und den sich nun rasch wandelnden, zwischen Aufstiegshoffnung und Existenzangst oszillierenden Lebensumständen in den ehemaligen Ostblock-Staaten.

In seinem Debüt „33 Augenblicke des Glücks“ beschreibt er in 33 Erzählungen, die immer wieder in die Groteske kippen und passend zur Lokalität die russischen Klassiker Puschkin, Gogol, Charms etc. inkorporieren, die Widrigkeiten und Nöte der St. Petersburger, die sich in den unsicheren neuen Verhältnissen zurechtfinden müssen. Im Nachfolger „Simple Storys“ skizziert er in kurzen, miteinander verzahnten, stilistisch offensichtlich von Hemingway und Carver beeinflussten Geschichten die historische Umbruchsituation in seiner ehemaligen Heimatstadt Altenburg. Da war er nun also, der vom Feuilleton geforderte „Wenderoman“ – und entsprechend wurde er gefeiert. Sogar der „New Yorker“ druckt Stories und preist ihn als interessanteste Stimme der jüngeren deutschen Literatur.

Nach einer immerhin siebenjährigen Pause veröffentlicht er 2005 sein Opus magnum „Neue Leben“, einen fast achthundertseitigen Briefroman und eine neben vielem anderen, das noch der Dechiffrierung durch einen gewitzten Doktoranden harrt – ambitionierte Adaption des „Faust“-Stoffes. Ich frage nach den mentalen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Risiken eines solchen langen Produktionsprozesses, aber Schulze wiegelt ab. „Merkwürdigerweise habe ich erst danach über manche Dinge nachgedacht. Ich musste auch Schulden machen, nicht viel, aber die sicherten mir die Freiheit, wie auch der Breitbach-Preis, den ich 2001 erhielt. Ich habe erst einmal drei Jahre gebraucht, bis ich loslegen konnte. Dann dachte ich immer, nächstes Jahr bist du fertig. Einerseits hatte ich das Gefühl, ich übernehme mich dabei, andererseits war ich froh, endlich einen Faden in der Hand zu halten, entlang dessen ich erzählen kann, was ich schon immer erzählen wollte. Jetzt laufe ich erst mal wieder ein bisschen Kurzstrecke. Nach diesem mehrfach verspiegelten Roman war mir das einfache Erzählen wichtig, als würde ich mich nach einer Sinfonie an ein paar Lieder setzen. Es war sozusagen das Wagnis der Einfachheit.“

Entsprechend könnte man den Untertitel des neuen Erzählungsbandes, der zunächst auf E.T.A. Hoffmanns „Fantasiestücke in Callot’s Manier“ anspielt, auch ironisch verstehen als eine Rückkehr zu Schutzes „alter Manier“ der scheinbar simplen Story. Nur hat er sich jetzt erstmal verabschiedet von seinem Wende-Thema. In den meisten neuen Geschichten geht es um das Leben als zeitgenössischer Schriftsteller, entsprechend heißt der Ich-Erzähler so wie der Autor und hat genauso betitelte Bücher geschrieben. Schulze beschreibt einen Aufenthalt als Stipendiat in New York und eine Vortrags- und Lesereise im Auftrag des Goethe-Instituts nach Kairo, die den Erzähler ganz krank macht und ihn seine Freundin kostet; ein Arbeitsurlaub in Estland liefert den Rahmen für die – von Wladimir Kaminer bereits literarisierte – urbane Legende vom Zirkusbären, der im Wald ausgesetzt wird, weil ein paar Jäger so gern mal einen echten Bären erlegt hätten, was aber fehlschlägt, weil das Tier einer Kräutersammlerin ein Fahrrad entreißt und sich aus dem Staub macht. „Es geht ja immer darum, möglichst nah an die Dinge heranzukommen. In den „Schriftstellergeschichten“, räumt Schulze ein, „bediene ich mich bewusst eines Stils, der reportagehaft wirkt, also schon vom Sujet her Anspruch auf Wahrheit erhebt – und weil es Geschichten sind, diesen natürlich nicht erfüllt. Für mich ist das auch der Versuch, die Unmittelbarkeit zum Stil zu machen.“

Dass ein Vexierspiel zwischen Fiktion und Realität juristische Folgen haben kann, zeigt der Kasus Maxim Biller, dessen Roman „Esra“ aus dem Verkehr gezogen wurde, weil sich Billers ehemalige Freundin und deren Mutter ehrverletztend porträtiert sahen. Da hat Schulze nichts zu befürchten. „Ich erfinde etwas und tue dann so, als sei es Realität. Unabhängig von moralischen Erwägungen glaube ich daran, dass es für die Literatur besser ist zu erfinden als nachzuahmen.“

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