Zum Tod des langjährigen ROLLING-STONE-Autors Jan Wigger

Eine persönliche Erinnerung von Redakteur Maik Brüggemeyer aus seinem Newsletter ROLLING STONE-Wohnzimmer

Es muss ein Abend Anfang September 2001 gewesen sein, als ich ihn zum ersten Mal traf. Eine Geburtstagsparty in der Redaktion. Er stellte sich vor und hatte gleich alle möglichen Fragen zu den wenigen Textchen, die ich bis dahin für den ROLLING STONE geschrieben hatte. Er war ein obsessiver Leser. Und Hörer. Und spätestens seit er öfter mal als „Indie-Wigger“ in Arne Willanders Plattenbesprechungen auftauchte, war Jan eine Legende (zumindest in meiner Welt). Ich hätte also eigentlich derjenige sein müssen, der die Fragen stellt.

Immerhin hatte er für die aktuelle Ausgabe über die heißeste Band des Planeten geschrieben: The Strokes! Sein Treffen mit dem Sänger Julian Casablancas in Amsterdam war nicht besonders harmonisch verlaufen, weil er die ästhetische Nähe der Strokes zu The Velvet Underground und Television thematisiert hatte. „And you look like my fuckin‘ grandpa, man“, hatte der stark angetrunkene Casablancas zurückgeschnappt.

Jan lachte, als er davon erzählte. „Höhöhö, fuckin’ grandpa. Guter Witz.“ Sehr wahrscheinlich ließ er noch irgendeine Songzeile folgen, in der ein Großvater vorkam. Sowas wie: „,Grandpa‘s happy watching video porn‘. Zweites Eels-Album. Aber kennst du natürlich eh.” Und dann habe ich vermutlich halbwissend genickt.

So war das von da an oft. Er kannte sich überall aus – Metal, Indie, EmoCore, schratige Songwriter, Bruce Springsteen, Britpop, Münchner Freiheit, Hamburger Schule. In seiner Beschäftigung damit lag ein heiliger Ernst, zugleich hatte er einen Sinn für das Absurde und das Lächerliche – anders gesagt: das Menschliche –, das hinter allem steckte.

„Er kam mir manchmal wie eine leibhaftige Thomas-Bernhard-Figur vor“

An jenem ersten Abend sangen wir uns zu späterer Stunde Gitarrensoli vom ersten Television-Album vor, am Ende sprachen wir nur noch in Zitaten unseres „Lebensschriftstellers“ und liebsten Übertreibungskünstlers Thomas Bernhard. Jan schätzte vor allem Bernhards Erzählung „Die Mütze“ über alle Maßen. Der Erzähler ist ein Student der Forstwissenschaft. Er leidet an einem Kopfschmerz, der ihn in den Wahnsinn zu treiben droht, und zieht nach einer Odyssee durch mitteleuropäische Krankenhäuser, auf der keiner der von ihm aufgesuchten Spezialisten ihm helfen konnte, an den Attersee, um dort im Haus seines verwitweten Bruders, eines erfolgreichen Wissenschaftlers, der sich gerade auf einer Vortragsreise durch die USA befindet, zur Ruhe zu kommen. Und tatsächlich lebt er kurzzeitig auf, und nimmt nach Jahren seine Studien wieder auf, was ihn jedoch gleich wieder an den Rand des Irrsinns treibt. Bei einem Spaziergang findet er auf dem Weg eine graue Schildmütze, die von da an seine Gedanken beherrscht. Er kann diese Obsession nur ablegen, wenn er den Inhaber ausfindig macht. Doch auf seiner Suche schlagen ihm nur Aggression und Unverständnis der Dorfbewohner entgegen, und er kann der ihn überkommenden existenziellen Verzweiflung schließlich nur Herr werden, indem er alles, was er erlebt und gedacht hat, aufschreibt und niemals damit aufhört.

Wenn man Jan ein bisschen besser kannte, ahnte man, warum er gerade diese Erzählung so liebte, er kam mir manchmal selbst wie eine leibhaftige Thomas-Bernhard-Figur vor. Komisch und tragisch zugleich: Von der feindseligen Welt in den Kerker seiner dunklen Gedanken getrieben, aber immer wieder den nächsten Ausbruchsversuch planend – mit Musik, Film und Fußball als Fluchthelfern.

Wir gingen regelmäßig gemeinsam in seinen Lieblingsclub, das Kir in der Max-Brauer-Allee, wo er Rotwein mit Strohhalm trank, damit seine Lippen sich nicht vom Getränk blau färbten. Nicht selten schrieben wir dort Listen auf Bierdeckel: „Maik, die fünf besten Soli von J. Mascis!“ „Die fünf größten amerikanischen Bands!“ „Dein Ranking der Built-To-Spill-Alben!“ Wir sahen die White Stripes im kleinen Molotow am Spielbudenplatz, Jeff Tweedy, wie er in der Tanzhalle St. Pauli, zur akustischen Gitarre die Stücke von „Yankee Hotel Foxtrot“ (und „Spiders“ von „A Ghost Is Born“) vortrug, waren dabei, als Ryan Adams vollkommen entfesselt und betrunken die Große Freiheit leerspielte und gingen anschließend mit dem Rest der Band bis in die Morgenstunden auf dem Kiez noch was trinken. Bei den Strokes waren wir natürlich auch.

„Ich würde gern in einem Blumenladen arbeiten. Das würde mir Spaß machen“

Dann zog der ROLLING STONE nach München, und ich sah Jan nur noch, wenn sein größter Fluchthelfer Bruce Springsteen, den er für seine Fähigkeit, Angst und Zweifel in eine lebensbejahende Energie umzuwandeln, über alles liebte, im Olympiastadion spielte. Wenn ich etwas über sein weiteres Leben erfuhr, dann meist aus den Plattenkritiken, die er für „Spiegel Online“ schrieb. Es waren die idiosynkratischsten und unterhaltsamsten, die ich jenseits von Lester-Bangs-Textsammlungen je gelesen habe. Jans ganze Komik und Tragik steckten da drin.

Irgendwann zog er sich zurück, und bis auf den ein oder anderen Austausch per Mail über die Filme von Terrence Malick oder die Comics von Daniel Clowes hörte ich nicht mehr viel von ihm. Zu aktueller Musik habe er den Bezug verloren, schrieb er mal. Und dann: „Ich würde gern in einem Blumenladen arbeiten. das würde mir Spaß machen.“

Gestern wurde bekannt, dass Jan Wigger vor einigen Tagen in Hamburg gestorben ist. „And see people, they don’t understand/ No, girlfriends, they can’t understand/ Your grandsons, they won’t understand/ On top of this, I ain’t ever gonna understand.“

Hier geht’s zu Jan Wiggers Text über seinen großen Helden Bruce Springsteen.

Hier ist eine Übersicht aller seiner für den ROLLING STONE verfassten Texte.

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