Nick Cave – verzögerter Orgasmus

Popmusik ist das neue Bayreuth: Nick Cave, der Mann mit der australischen Nebelhornstimme, gibt in Berlin ein Konzert. Am Ende wird deutlich: Er ist im Establishment angekommen.

Popmusik ist in einem merkwürdigen Zustand. Über die letzten 60 Jahre hinweg war sie ein treuer Begleiter in Sachen Zeitdiagnose. Ein emotionales Erklärsystem, das weit über seine technisch-musikalische Funktion hinausgegangen ist. Nicht umsonst stammen große Dichter und Denker direkt aus dem Pop; Liverpool, Nashville, Nick Kent und Greil Marcus – die ganze Arie halt. Ähnlich wie beim Systemspiel Fußball konnte (und kann?) man mit Popmusik die Welt erklären.

Man muss sich also fragen, was es zu bedeuten hat, wenn man zum exklusiven Radiokonzert von Nick Cave von der Arbeit extra nach Hause fährt, um sich einen Anzug anzuziehen. Aus Respekt vor dem Künstler und aus Spaß, ein exklusives Musikereignis angemessen zu zelebrieren. Wie bei einer tollen Hochzeit oder einer Kindstaufe in Oberschwaben. Wir reden von einem so genannten Top-Event im Theater-artigen Admiralspalast direkt am Bahnhof Friedrichstraße. Vor dem Eingang steht eine Menschenschlange bis nach Potsdam. Im imposanten Innenraum hat es Balkone, Oberränge und Servicekräfte in Uniform, welche die Denkmal geschützten Eingangstüren öffnen und schließen, wenn man sich zwischendurch ein Bier holen geht.

Ein Hauch von Weimarer Republik schwebt über dem Ereignis, als sich nach einer zehnminütigen Video-Dokumentation über die Produktion des neuen Albums „Push The Sky Away“ die Bühne füllt. Der Sender Radio Eins (Motto: „Nur für Erwachsene“) hat diesen Aufschlag ermöglicht. Ein Set-Up wie bei James Last oder den Les Humphries Singers: Instrumentengewusel, Streicher, Kinderchor. Das große Besteck also.

Der heute 55jährige Nick Cave in Hemd und schwarzer Streichhholzbein-Hose hat sich wahnsinnig gut gehalten. Dünn wie Kate Moss mit 16 springt er ans Mikro und zieht das ausverkaufte Haus mit seiner australischen Nebelhornstimme in seinen Bann. Monsters of Ehrfurcht – der Magier ist zurück in Berlin mit der Single-Auskopplung „Who No Who U R“. Anfangs ist noch zu spüren, dass es für die 2013er-Ausgabe der Bad Seeds etwas ungewohnt ist, in diesem Format zu spielen. Mit jedem weiteren Song des neuen Albums „Push The Sky Away“ gewinnt das Nick Cave Orchester jedoch an Fahrt. Und klar doch: Nick Cave, das wurde auch im Vorfilm noch einmal deutlich, ist ein Meister des verzögerten Orgasmus. Der King der atmosphärischen Verlangsamung. Vom schrillen Brachialkrawall seiner Urtruppe Birthday Party bis heute ist Cave einen langen Weg gegangen. Ein echter Kerl, veredelt durch Heroin – dem macht keiner was vor!

Seine expressiven Hampelmann-Posen sehen natürlich gaaanz toll aus.

Scheißegal, dass seine Zuckungen auch erschreckend an Ausdruckstanz oder Waldorfschulen-Esoterik erinnern. Sascha Waltz lässt schön grüßen. Doch Nick Cave darf das. Er beschwört wie gehabt Sex, Tod und Robert Johnson. Ein Meister der Altmänner-Mythenbeschwörung, der mich dazu bringt, zu einem blöden Popkonzert einen Anzug anzuziehen.

Doch was hat das alles zu bedeuten? Mal davon abgesehen, dass das neue Album einigermaßen wohlgeraten und der Titelsong „Push The Sky Away“ aus dem Stand ein Klassiker werden kann!? Der Karriereweg des großen Nick Cave ist ein weiteres Indiz, wie sehr „Establishment“ Popmusik selbst in ihrer schrägeren Ausformung – also jenseits von Sting oder Chris De Burgh – geworden ist. Beim VIP-Rumstehen nach dem Konzert fachsimpelten Kritiker und Kenner mit gekräuselten Mienen über das Album und das kurze Greatest-Hits-Feuerwerk („Mercy Seat“ und so), nach dem die Radiozuhörer verabschiedet worden sind. Kein Zweifel: Popmusik ist das neue Bayreuth.  

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