2006 – Odyssee im Chat-Raum

Bands kommen jetzt schon vom Internet bis auf Platz eins - warum wird Myspace trotzdem verklagt?

Alles wird neu sein, wenn ein Mann aus Kirgisien das Pariser Olympia ausverkauft, weil alle die Shakira-Parodien mal in echt sehen wollen, die sie aus seinen Youtube-Videos kennen. Die Welttour wird er ohne große Konzertagentur organisiert haben, die Termine stehen nur auf seiner Myspace-Page. Die Werbe-Sticker auf Berliner Straßenlaternen klebt ein Street-Team, das spontan von einem argentinischen Fan rekrutiert wird.

Ein Szenario, das man sich unter Einfluss der Internet-Euphoriemeldungen des Jahres 2006 zusammenfiebern könnte. Warum es trotzdem so unvorstellbar klingt? Weil das Internet zwar ein Medium für Massen ist – aber kein Massenmedium. Der so genannte Boom des dezentralistischen Web 2.0 hat diese Entwicklung noch befeuert, trotz der obszönen Geldsummen, die hier reingesteckt wurden und irgendwie wohl wieder rauskommen müssen. Als alte Fernseher und Zeitungsleser können wir halt schlecht umdenken, und deshalb werden immer die Großphänomene hergenommen, um zu beweisen, wie relevant die neuen Netzwerke sind: Die Arctic Monkeys feierten eines der am schnellsten verkauften Alben der britischen Geschichte – ihren Erfolg, so sagt man, verdanken sie dem Internet. Das Duo Gnarls Barkley kam, wieder im sonderbar fortschrittlichen England, auf Nummer eins, obwohl es ihre Single erst nur als Download gab. Beck stellte sein Album vor Veröffentlichung komplett auf die Video-Seite Youtube, zum Anschauen und Nebenbeihören.

Abgesehen davon, dass die Online-Musterhaus-Beispiele bei genauem Hinsehen wenig miteinander zu tun haben: Am Ende zeigen sie nur, wie die klassisch operierende Pop-Industrie sich Effekte des neuen Aufbruchs zunutze macht, den sie offenbar nicht im Geringsten kapiert. Universal, einer der Konzerne, die ihre Produkte nun auf alle Plattformen schmuggeln, hat Myspace und Youtube schon auf Urheberrechtsverletzung verklagt, andere folgen sicher bald. Wer – egal warum- das Prinzip von Web 2.0 bekämpft, wird auch den Gewinn nicht ernten.

In Deutschland waren 2006 schon die „Leser-Reporter“ unterwegs, und immer mehr Pop-Freunde haben sich ihre Plattentipps lieber vom Lieblings-Blogger geholt als aus aufwändig gedruckten Heften. Einen Konsens darüber, was ¿wichtig und interessant für alle ist, gibt es im Web 2.0 mit seinen Milliarden unterschiedlicher Nutzerprofile nicht mehr. Aber es ist genau dieser Konsens, aus dem die alten Massenmedien und Musik-Charts ihre Berechtigung gezogen haben. Dass eine Band kraft des Netzes zum Massenphänomen wird – das ist ein Widerspruch in sich. Viel aussagekräftiger sind deshalb die Fälle, die schiefgelaufen ist. Die Grup Tekkan zum Beispiel, die mit ihrem „Sonnenlischt“-Song für hunderttausende amüsierter Klicks gut war, wurde auf CD zur Komplettpleite. Weil es so nicht geht. Vielleicht wären auch die Arctic Monkeys heute vergessen, wenn sie kein Label gefunden hätten. Bei ihnen war es umgekehrt, weil sie—und das ist ein Gedanke, der in seinem Geschmäcklertum schrecklich unsexy ist – einfach eine tolle Band sind.

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