Kritik: Depeche Mode live in Berlin – sie treffen einen neuen Nerv

Ihr politischstes Album „Spirit“ geht etwas unter – doch es sind sowieso die älteren Lieder, die Depeche Mode für die neue Zeit gekonnt aufarbeiten

Natürlich bestehen Depeche-Mode-Konzerte auch aus Routinen, die längst zu Traditionen geworden sind. „Heute Abend vor der Show würde ich gern wieder eine amtliche La-Ola-Welle sehen!“, schrieb vor dem Auftritt in Berlin ein informierter Fan ins Forum von depechemode.de. „Ob wir dit hinkriegen!?“

Kriegen wir hoffentlich hin. Amtliche La-Ola-Welle, amtlicher Spaß. Warum auch nicht amtlich! Nach der Konzert-Dramaturgie der 38 Jahre alten Band ließ sich bislang die Uhr stellen. „Enjoy The Silence“, „Never Let Me Down Again“ und „Personal Jesus“ kommen stets gegen Ende des Auftritts. Der Hallentour-Abschnitt im Winter der jeweiligen Welttournee (die alle vier Jahre und im Fußball-WM-Jahr stattfindet) bietet eine leicht verkürzte Setlist, beim Finale von „Walking In My Shoes“ ruft Dave Gahan seinem Schlagzeuger ein dramatisches „Christian!“ entgegen.

Und doch ist bei der „Global Spirit“-Tour etwas anders als in der Vergangenheit. Mit „Spirit“ veröffentlichten die Briten 2017 ihr wohl politischstes Album, im ROLLING-STONE-Interview wütete Wahl-New-Yorker Dave Gahan gegen den damals frisch ins Amt gewählten Präsidenten Donald Trump. In der Single „Where’s The Revolution“ forderte er einen Aufstand gegen Nationalismus und Sexismus.

Zwar promoten Depeche Mode auf Tour ihr aktuelles Album so dürftig wie keines zuvor, neben „Where’s The Revolution“ spielen sie lediglich die zwei weiteren Singles „Cover Me“ und „Going Backwards“ (beim zweiten Berlin-Abend lassen sie „Where’s The Revolution“ sogar weg, und damit zum ersten Mal in der Live-Historie eine gegenwärtige Vorab-Single – haben sie „Spirit“ schon abgeschrieben?) .

Dafür besetzen Hörer gerade ältere Stücke mit neuer Bedeutung, Songtexte erscheinen in neuem Zusammenhang, ohne dass sie abgeändert wurden. Das liegt auch am Gesangsvortrag Gahans selbst. Für eine Band, deren Mitglieder auf der Bühne nie erklärende Reden schwingen, ist das beachtlich. „Useless“, fatalistisch, quälend verlangsamt, ist im Vergleich mit „Revolution“ nun der viel bessere Anti-Trump-Song: „All your stupid ideals / Got your head in the clouds / You should see how it feels /With your feet on the ground“.

In „Barrel Of A Gun“ streut der Sänger Zeilen aus dem Grandmaster-Flash-Klassiker „The Message“: „Don’t push me ‚cause I’m close to the edge /I’m trying not to lose my head“. 1982 ging es darin um ein New York am Abgrund. 35 Jahre später hat es der schlimmste New Yorker bis ins Weiße Haus geschafft.

Beim vielleicht größten Hit der Briten, „Enjoy The Silence“, wird auf der Leinwand ein Video mit Haustieren gezeigt, Schafe, Schweine, Kaninchen, sie blicken drein wie auf dem Weg zur Schlachtbank. Der Clip demonstriert, dass sich Akzente verschieben. Beim Lied dachte man sonst an das berühmte Video von 1990, mit Gahan als gekröntem König im Gartenstuhl. Nun geht es um Wichtigeres.

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„Walking In My Shoes“ handelte 1993 von der schwierigen Verarbeitung des Ruhms, Gore schrieb das Lied auch, weil sich bei ihm erste Süchte entwickelten. Gahan nahm den Song gierig auf – er kämpfte mit seiner Heroinabhängigkeit, mahnte Kritiker, sich in seine Lage zu versetzen. Im Jahr 2018 hat die Hymne eine neue Bedeutung: Der Leinwandfilm zeigt einen Mann, der sich im Laufe des Tages als Frau verkleidet, eher noch: in eine Frau verwandelt. „Walking“ funktioniert nun als Statement zur Geschlechtsidentität. Es ist vielleicht die erste Konzertreise der Band, in der ein Set – schwierig genug bei einer Greatest-Hits-Revue – eine übergeordnete Erzählung bietet.

Auch Martin Gore verschwindet hinter seinen Songs, hält sich als Frontmann zurück. Bei keinem der drei Stücke, die er als Leadsänger aufführt, ist er auf dem Großbildschirm zu sehen. Während des ganzen Konzerts bekommt der Haupt-Songwriter keinen richtigen Close-Up. Nur begleitet von Tourmusiker Peter Gordeno am Keyboard, erhält man bei diesen Aufführungen Einblicke in vereinfachte Melodien, ganz ohne den Synthi-Bombast, und wie sie wohl einst am Klavier komponiert wurden. „Strangelove“, „Insight“ … „Insight“ intonierte Gore in der exakten Mitte des Sets, als zehnten Song.

Und das ist eine bemerkenswerte Statistik: Bis zu diesem Zeitpunkt im Konzert war, bis auf „World In My Eyes“, keiner der live dargebotenen Stücke älter als das „Ultra“-Album von 1997. Was bedeutet, dass Depeche Mode ihre Kraft verstärkt auch aus jüngerem Material ziehen (was gerade mal 21 Jahre alt ist, gilt bei Depeche nicht als alt).

Das „Ultra“-Album ist der heimliche Sieger der Tournee, mit fünf dargebotenen Songs. Die Band entdeckte das Werk, das einst ihre eigene Wiederauferstehung nach drohender Trennung feierte, vergangenes Jahr zum 20. Jubiläum neu. Es ist ja auch die einzige DM-Platte, die ihrerzeit keine eigene Konzertreise erhielt.

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Gegen Ende noch drei Überraschungen. Eigentlich nur zwei. Diese ist keine: Dass 17.000 Menschen wie aus dem Nichts zu „Never Let Me Down Again“ ihre Arme im Takt von recht nach links schwenken, wirkt wie ein plötzlicher Sturm von 34.000 Gliedmaßen, ist aber natürlich ein DM-Ritual. Doch gibt es irgendeine andere Band, deren Fans das zu Zehntausenden tun, ohne dass sie explizit dazu aufgefordert werden?

Überraschung eins, nun also: Gahan sagt seinen Keyboarder Andrew Fletcher tatsächlich als Andrew „Fletch“ Fletcher an. Nummer zwei: Gahan, 55, zieht doch noch sein Jackett aus, zeigt seinen durchtrainierten, nackten Oberkörper. Aber nur von hinten. Er verlässt dabei bereits den Saal. Coole Nummer. Aber er weiß, was bei seiner Performance wirklich gezählt hat. Er hat davon den ganzen Abend gesungen, und es ging nicht ums Aussehen.

Setlist:

  1. Going Backwards
  2. It’s No Good
  3. Barrel Of A Gun
  4. A Pain That I’m Used To
  5. Useless
  6. Precious
  7. World In My Eyes
  8. Cover Me
  9. Insight
  10. Home
  11. In Your Room
  12. Where’s the Revolution
  13. Everything Counts
  14. Stripped
  15. Enjoy The Silence
  16. Never Let Me Down Again

Zugabe:

  1. Strangelove
  2. Walking In My Shoes
  3. A Question Of Time
  4. Personal Jesus
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