20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
Die Klänge, denen man während der Nixon-Ära nicht entkommen konnte – darunter Elton John, Marvin Gaye und viele mehr
Popgeschichte mit ein oder zwei Generationen Abstand zu betrachten, lässt einen leicht vergessen, wie sich die Dinge aus der Mitte des Zeitgeistes heraus tatsächlich anhörten. Während sich die westliche Kultur in einen komplexen kulturellen Aufruhr stürzte, spiegelten die frühen Siebziger diese Komplexitäten in ihren Chart-Hits wider. Mit Musik, die eindrucksvoll, unterhaltsam und – im Guten wie im Schlechten – unausweichlich war.
Die Songs auf dieser Liste gehören daher zur musikalischen DNA aller, die damals lebten. Das Radio war noch wichtiger als das Fernsehen. Und unsere scheinbar endlosen Kulturkämpfe standen erst am Anfang. Neue Zielgruppen entstanden. Popmusik begann, sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Es war die beste Zeit, es war die – ach, Sie wissen schon. Und so präsentieren wir, soweit wir uns erinnern können, die großartigste Musik, der man in den frühen Siebzigern nicht entkommen konnte.
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
James Brown – „Get Up (I Feel Like Being a) Sex Machine“ (1970)
Die Siebziger waren vielleicht das sexuell aufgeladenste Jahrzehnt der westlichen Welt. In dem Zeitraum zwischen der Erfindung der Antibabypille und dem Auftauchen von AIDS entwickelten sich die utopischen Fantasien der Sechziger in bis dahin ungeahnte neue Möglichkeiten. James Brown mischte sich früh in dieses freizügige Treiben ein. Mit einer bahnbrechenden Single, die seine, nun ja, Ausdauer und Vitalität in einem euphorischen Groove zelebrierte.
Seine junge, hungrige und minimalistisch spielende neue Band, die J.B.’s, bestand aus den Brüdern Bootsy und Catfish Collins an Bass bzw. Gitarre und Jabo Starks am Schlagzeug. Bobby Byrd fungiert als Hype-Man in dieser magisch improvisierten Neuinterpretation des Bläser-lastigen James-Brown-Orchestra-Stücks „Give It Up or Turnit a Loose“.
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
Jackson 5 – „I’ll Be There“ (1970)
Nachdem die Jacksons 1969 ihr Debüt „I Want You Back“ veröffentlicht hatten, folgten mit „ABC“ und „The Love You Save“ weitere energiegeladene Hits. Ihre Lebensfreude schien unerschöpflich. Eine neue Quelle von Motown-Optimismus für das neue Jahrzehnt. Doch es war ihre erste Ballade, die sich als meistverkaufte Motown-Single aller Zeiten erwies. Und diesen Titel über ein Jahrzehnt lang behielt. Noch nie hatte ein Kind so glaubhaft von ewiger Hingabe gesungen wie Michael Jackson, der mit kindlicher Sanftheit beginnt und dann mit einem erwachsenen Krächzen ausbricht. Als er am Ende „Just look over your shoulders, honey“ hinausschreit – ein Echo auf die Four Tops und „Reach Out (I’ll Be There)“ –, blickt er in die Vergangenheit und kündigt zukünftige Größe an.
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
George Harrison – „My Sweet Lord“ (1970)
Nach der spirituell-sanften Beatles-Single „Let It Be“ zu Beginn des Jahres 1970 strebte George Harrison im Dezember mit „My Sweet Lord“ in himmlische Höhen. Harrison verband das Hare-Krishna-Mantra, den christlichen Hymnus „Oh Happy Day“, bluesige Slide-Gitarren, Phil Spectors Wall of Sound und die Melodie von „He’s So Fine“ von den Chiffons zu einem beispielhaften, maximalistischen Pop-Meisterwerk. So zumindest urteilte ein US-Bezirksgericht. Oder wie John Lennon im ROLLING-STONE-Interview sagte: „Jedes Mal, wenn ich das Radio anmache, läuft ‚Oh my Lord‘. Ich glaube langsam, es gibt wirklich einen Gott!“
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
Derek and the Dominoes – „Layla“ (1970)
In den Sechzigern wechselte Gitarrenheld Eric Clapton von Supergroup zu Supergroup. Doch mit Beginn des neuen Jahrzehnts entdeckte er den Blues wieder. Und stellte eine fokussierte, energiegeladene Band zusammen, die seine Leidenschaft teilte. Claptons damals unerwiderte Liebe zu Patti Boyd (der Ehefrau seines Freundes George Harrison) rief die leidenschaftlichste Performance seiner Karriere hervor.
Grateful Dead – „Uncle John’s Band“ (1970)
Der Wandel von AM- zu FM-Radio in den Siebzigern schwächte das Massenpublikum, auf das Pop-Hits angewiesen waren. Hippies und Gleichgesinnte hingen zunehmend an freien FM-Stationen. Und kein Underground-Hit schimmerte so geheimnisvoll wie der Opener von Workingman’s Dead, eine sepia-getönte Erklärung der neu erlernten Vokalharmonie der Grateful Dead. Die Einladung „Come hear Uncle John’s Band“ sei laut Texter Robert Hunter „das Locken und Überreden der Kräfte der Generations-Einheit“. Als der Song aus dem Radioprogramm genommen wurde, weil er „Goddamn, well I declare / Have you seen the like?“ enthielt, bestätigte das nur die Verschwörungstheorien aller Subkulturen.
Lynn Anderson – „Rose Garden“ (1970)
In den Siebzigern eroberte Countrymusik das Mainstream-Radio wie nie zuvor. Und Frauen standen an vorderster Front. Man kam nicht daran vorbei, wie Loretta Lynn mit „Coal Miner’s Daughter“ und Dolly Parton mit „Jolene“ Nashville neu definierten. Doch der größte Country-Crossover-Hit seiner Zeit, geschrieben vom Country-Soul-Großmeister Joe South, erschien zu einem Zeitpunkt, als laut Anderson selbst „die Menschen versuchten, sich von den Vietnam-Jahren zu erholen“. Der Song war eine optimistische Hymne. Die zugleich wie ein kalter Spritzer ins Gesicht wirkte.
Janis Joplin – „Me and Bobby McGee“ (1971)
Mehrere Sängerinnen und Sänger hatten sich bereits an Kris Kristoffersons wehmütiger Geschichte zweier umherziehender Liebender versucht. Von Kenny Rogers bis Bill Haley. Aber keine(r) stürzte sich mit so viel Verve hinein wie Janis Joplin. Allein wegen ihres kratzigen, aufsteigenden Finales wäre diese Aufnahme ein Klassiker geworden. Selbst wenn sie nicht vor ihrer Veröffentlichung gestorben wäre. Doch ihr früher Tod verlieh der Zeile „Freedom’s just another word for nothing left to lose“ eine endgültige Note. Sie wurde so zum Epitaph nicht nur für die wildeste aller Hippie-Blues-Frauen. Sondern auch für die Sechziger an sich.
Led Zeppelin – „Stairway to Heaven“ (1971)
Das FM-Radio der Siebziger feierte Musik von großer Länge, großer Weite und großer Tiefe – auch wenn das Publikum vielleicht manchmal ein bisschen berauscht sein musste, um sie als tiefgründig zu empfinden. Und keine Band beherrschte diese Radiowellen so sehr wie Led Zeppelin. „Stairway“ ist lang – acht Minuten und zwei Sekunden. „Stairway“ ist breit – denn der Song entwickelt sich vom pastoralen Mystizismus der Renaissance-Folk-Seite Zeppelins zur donnernden Wucht, die sie zu Metal-Helden machte. Sicher, Zeppelin konnten und wurden noch härter und wilder als bei „Stairway“. Aber nie waren sie zeppelin-esker.
Carole King – „It’s Too Late“ (1971)
Schon als Teenagerin schrieb Carole King im legendären Brill Building in New York Hits wie „Will You Still Love Me Tomorrow“. Doch ihre eigene Karriere als Sängerin begann erst richtig, nachdem sie Ende der Sechziger nach Laurel Canyon zog. Die von Toni Stern verfassten Lyrics (basierend auf einer gerade beendeten Beziehung mit James Taylor) vermitteln eine erwachsene Perspektive auf das Beenden einer Beziehung. Ganz ohne Schuldzuweisungen oder Bitterkeit. Kings weiser, müder Gesang lässt einen vergessen, dass sie damals noch keine 30 war. Und wie Curtis Amys Sopransaxofon-Solo vor dem letzten Refrain versiegt, unterstreicht die Botschaft des Songs. Dass Liebe einfach so verschwinden kann.
Rolling Stones – „Brown Sugar“ (1971)
Die Stones begegneten dem Utopismus der Sechziger meist mit einem Augenzwinkern oder einem Knurren – doch nun traten sie in ein Jahrzehnt ein, das ebenso rau und unfreundlich war wie sie selbst. Angeblich ein Party-Song, verfolgt „Brown Sugar“ den Ursprung von Rock ’n’ Roll – und damit auch von Reichtum, Ruhm und sexueller Eroberung der Rolling Stones – bis hin zur Sklaverei und der Ausbeutung schwarzer Leben und Kultur… und ist dabei nicht im Geringsten entschuldigend. „Brown Sugar“ ist Walter Benjamins Aphorismus zufolge ein Beispiel dafür, dass jedes Dokument der Kultur auch ein Dokument der Barbarei ist.
Sly and the Family Stone – „Family Affair“ (1971)
Sly Stones letzter Nummer-eins-Hit – der erfolgreichste seiner Karriere – war ein dunkles, reduziertes Meisterwerk des U-Boot-Funks. Die Bestandteile des Tracks: Schwester Cynthia Rose, die den Titel mit gefalteten Händen singt, Bobby Womack an einer unheilvollen Wah-Wah-Gitarre – und Sly selbst an allem anderen, vor allem an der Maestro Rhythm King MRK-2 Drum Machine, seiner „Funk-Box“. Womack zufolge resultiert Slys distanzierter Gesang daraus, dass das Mikrofon neben seinem Kopf lag, während er benommen auf dem Klavier lag. Die rätselhaften Lyrics deuten alles Mögliche an – vom Woodstock-Kater bis hin zur Angst vor den Black Panthers. Doch wie Sly dem Rolling Stone zur Veröffentlichung sagte: „Der Song handelt von einer Familienangelegenheit – ob durch genetische Prozesse oder durch Umweltbedingungen bedingt.“
Al Green – „Let’s Stay Together“ (1972)
Während sich Soulmusik in den Siebzigern weiterentwickelte, wich das Tanzen auf den Straßen der Bürgerrechtsära dem Liebesspiel hinter verschlossenen Türen. Kein Sänger kombinierte ländlichen Charme mit Schlafzimmer-Eleganz so mühelos und dreist wie Al Green. Auf ein aufrichtiges „You’d never do that to me“ folgt ein selbstsicheres gesprochenes „Would you baby?“ – als würde er den gesamten Song improvisieren, begleitet von einem Beat, den die Hi Rhythm Section gerade robust genug spielt und von einem Arrangement, das Produzent Willie Mitchell gerade elegant genug veredelt.
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
The Staple Singers – „I’ll Take You There“ (1972)
Mit einem Vers, zwei Akkorden und fast fünf Minuten gospel-souliger Größe machte „I’ll Take You There“ erhebende schwarze Kirchenmusik für weiße Zuhörer zugänglich. Das Muscle-Shoals-Arrangement zapfte unterdessen tief – wenn auch vielleicht etwas zu nonchalant – den frühen jamaikanischen Reggae an. Die Lyrics stammen von Stax-Mitinhaber Al Bell, doch die rhythmische Struktur wurde direkt aus dem 1969er Reggae-Hit „The Liquidator“ der Harry J Allstars übernommen, mit den zukünftigen Wailers Carlton (Schlagzeug) und Aston „Family Man“ Barrett (Bass), die den Riddim lieferten, den Rocksteady-Sänger Alton Ellis wiederum als Kopie seines eigenen „Girl I’ve Got a Date“ bezeichnete. Mavis Staples’ herrliches Contralto – ein virtuos einsetzbares Instrument zum Rufen und Anfeuern – befreite den Song aus seiner komplizierten Herkunft. „Die Leute dachten, ‚I’ll Take You There‘ sei Teufelsmusik“, sagte sie später, „weil man dazu tanzte.“
Elton John – „Rocket Man“ (1972)
„Your Song“, „Levon“, „Tiny Dancer“, „Daniel“, „Honky Cat“, „Crocodile Rock“ – Elton John beherrschte die frühen Siebziger und den Großteil des restlichen Jahrzehnts. Doch „Rocket Man“ war sein ehrgeizigster Megahit. Inspiriert von Tom Rapps gleichnamigem Stück mit der Acid-Folk-Band Pearls Before Swine, stellte sich Texter Bernie Taupin einen Astronauten vor, der von der Banalität seines Berufs frustriert ist. (David Bowies „Space Oddity“ wirkte im Vergleich fast theatralisch.) Auf der Bühne nutzte John den Song als Sprungbrett für immer neue Jams, die von New-Orleans-Klavierpolyrhythmik bis zu esoterischen Synthesizer-Spielereien reichten.
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
Stevie Wonder – „Superstition“ (1972)
„Fingertips Pt. 2“ war Stevie Wonders erster Nummer-eins-Hit – und das mit gerade mal 13 Jahren. Doch trotz einer dynamischen Reihe von Sixties-Singles gelang ihm fast ein Jahrzehnt lang kein weiterer Chart-Topper. Dieses von einer Clavinet-Riff angetriebene Powerstück etablierte das einstige Wunderkind als den erwachsenen Genie-Musiker, der das Jahrzehnt dominieren sollte: Wie bei Marvin Gayes „What’s Going On“ war „Superstition“ der Sound eines Motown-Künstlers, der seine Karriere selbst in die Hand nahm. Und Stevie Wonders Hit war auf seine subtile Art ebenso politisch wie Marvins – er spiegelte das skeptische Grundgefühl in den USA jener Zeit wider.
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
Helen Reddy – „I Am Woman“ (1972)
Helen Reddy trug ihre eingängige feministische Hymne „I Am Woman“ mit raffinierter Zurückhaltung vor. Als Performerin war Reddy mit männlicher Dummheit bestens vertraut. Sie war „da unten am Boden“ gewesen, und dieser Song – dessen kraftvoller, unbesiegbarer Refrain ihr im Traum kam – war die Abrechnung. Ein kollektives Aufbegehren, das oft fälschlich für egozentrische Prahlerei gehalten wurde. „Ich konnte mich mit allen möglichen Frauen verbinden“, schrieb Reddy später. „[F]rauen, die zunächst von einigen der lauteren feministischen Stimmen abgeschreckt waren – oder Frauen, die glaubten, sie seien bereits befreit.“
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
Todd Rundgren – „Hello It’s Me“ (1972)
Wenn doch nur alle Adult-Contemporary-Musik so unterhaltsam – und so nervig – wäre wie Todd Rundgrens erster selbstgeschriebener Song. „Dich sehen“, singt Rundgren in dieser mehr als leicht narzisstischen Boy-meets-Girl-Trennungsgeschichte, bevor er sich selbst korrigiert: „…oder überhaupt irgendetwas sehen – so wie ich dich sehe.“ Geschrieben, als er noch Teenager und Mitglied von Nazz war, wurde der Song musikalisch vom Orgel-Intro einer Jimmy-Smith-Aufnahme von „When Johnny Comes Marching Home“ inspiriert; den Inhalt lieferte eine gescheiterte Highschool-Romanze in Form eines einseitigen Telefongesprächs. Für sein ambitioniertes Soloalbum Something/Anything neu aufgenommen, erhob Rundgren die Banalität des Schlussmachens zur hohen Popkunst.
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
Hot Butter – „Popcorn“ (1972)
Der weltweit erste rein elektronische Pop-Hit – und Keimzelle eines zukünftigen Universums synthetischer Klangwelten – wurde von Gershon Kingsley komponiert. Der deutsch-amerikanische Komponist entdeckte die Melodie beim Improvisieren über ein Bach-Stück und veröffentlichte sie 1969 auf Music to Moog By. „‚Pop‘ steht für Popmusik“, sagte Kingsley später, „und ‚corn‘ für Kitsch.“ Sein perlendes Ohrwurm-Instrumental wurde erst richtig erfolgreich, als Hot Butter – mit First-Moog-Quartet-Mitglied Stan Free – es 1972 neu aufnahmen. Es startete in einer Pariser Diskothek durch und inspirierte spätere Versionen von Aphex Twin, Muse und Crazy Frog.
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
Marvin Gaye – „Let’s Get It On“ (1973)
„What’s Going On“ war eine aufrüttelnde Hymne des politischen Bewusstseins und markierte einen neuen Abschnitt in Marvin Gayes Karriere als R&B-Auteur. Diese sexy Nummer rührte in ganz anderer Hinsicht – aber sie setzte ebenfalls ein Statement: Heißer Sex ist etwas, das „alle sensiblen Menschen“ brauchen. Die Siebziger würden ein dampfendes Jahrzehnt werden, und niemand erforschte die Kunst der Verführung mit solch humorvoller Vielseitigkeit und hedonistischer Hingabe wie Gaye.
20 Songs, die die frühen Siebzigerjahre prägten
The Sweet – „The Ballroom Blitz“ (1973)
Der Aufstieg von The Sweet von fertigem Popprodukt zu Vorreitern des Punk erreichte mit dem eingängigsten Glam-Rock-Hit seinen Höhepunkt. Dieses auf merkwürdige Weise berührende Stück harter Autobiografie – mit einem Arrangement, das unverhohlen von Bobby Comstocks 1963er Beat-Gruppen-Favoriten „Let’s Stomp“ übernommen wurde – schildert einen Flaschenwurf-Angriff während eines Auftritts im Januar 1973 in Kilmarnock, Schottland. „The Ballroom Blitz“ schaffte es zwei Jahre später in die USA und ebnete dort den Weg für die ebenso eingängige und militärisch getaktete Debütsingle der Ramones von 1976: „Blitzkrieg Bop“.