10 Jazz-Alben, die ROLLING STONE in den 1970ern liebte – von denen du noch nie gehört hast
Wir haben sie vor 50 Jahren gelobt – und du solltest sie dir heute anhören! 10 Jazz-Alben, die ROLLING STONE in den 1970ern liebte
ROLLING STONE war nie ein spezialisiertes Jazz-Magazin. Aber in den Siebzigern sorgte das Magazin dafür, dass die Leser über die Jazzwelt auf dem Laufenden blieben. Als Teil einer ausgewogenen musikalischen Ernährung. In den Tausenden von Plattenkritiken, die ROLLING STONE zwischen 1970 und 1979 veröffentlichte, wurden Hunderte von Jazzalben besprochen. Von berühmten wie auch obskuren Namen. Hier sind zehn LPs, von Fusion bis Jazz-Reggae, die wir in Dauerschleife hörten, die heute aber nur noch eingefleischten Jazzfans ein Begriff sind.
Archie Shepp, „Attica Blues“
Archie Shepp, Tenorsaxophonist und gelegentlicher Mitstreiter von John Coltrane, nutzte sein Talent, um gegen den Tod von über 40 Insassen und Wärtern während eines Aufstands im Attica-Staatsgefängnis im Jahr 1971 zu protestieren. Der Titeltrack dieses Albums war eine Zusammenarbeit von über 30 Personen. Darunter eine Rezitation des Textes durch den Anwalt William Kunstler. Der Song wurde als „eine tribalistische Raserei beinahe hysterischer Ausprägung beschrieben, die zu den erstaunlichsten Klangereignissen gehört, die je auf Schallplatte gebannt wurden“. Shepp verfolgte weiterhin aktive Karrieren als Musiker und Universitätsprofessor.
Was wir damals sagten:
„Es sei denn, du reagierst so langsam wie ein Flusspferd. Sie haben dich wie eine starke Strömung. Und du kannst nichts anderes tun, als dich mitreißen zu lassen. ‚Attica Blues‘ ist nicht nur ein Meisterwerk des Protests. Wie die Musik von Sun Ra, der Holiness Church, dem Mahavishnu Orchestra und anderen ist es mehr ein politisch-religiöses Erlebnis. Ein Appell an das höhere menschliche Bewusstsein, uns um Gottes willen aus diesem Leiden zu befreien.“ – Stephen Davis, RS 115 (17. August 1972)
Toshiko Akiyoshi-Lew Tabackin Big Band, „Insights“
Toshiko Akiyoshi, eine in der Mandschurei geborene japanisch-amerikanische Pianistin, gründete mit ihrem Ehemann Lew Tabackin (Mitglied der Tonight Show Band mit Doc Severinsen) diese Westküsten-Bigband. Sie komponierte die Musik, während Tabackin der prominente Solist war. Was dieses Ensemble von anderen abhob, waren Akiyoshis Kompositionen, die den Standard-Bigband-Sound mit hypnotischen Flötengrooves und japanischer Perkussion aufbrachen. Sie war zu diesem Zeitpunkt seit 20 Jahren aktiv. Und veröffentlichte schließlich über 50 Alben.
Was wir damals sagten:
„Bei einem Namen wie Toshiko Akiyoshi-Lew Tabackin Big Band sollte man besser gut sein. Und diese Gruppe steht an der Spitze der verbliebenen großen Jazzensembles. Wie alle überlebenden Formationen, die es wert sind, gehört zu werden, spiegelt die TA-LTBB das musikalische Denken einer Person wider. In diesem Fall eines der markantesten Jazzverständnisse überhaupt.“ – Bob Blumenthal, RS 266 (1. Juni 1978)
Flora Purim, „Butterfly Dreams“
Diese brasilianische Chanteuse mit sechs Oktaven Stimmumfang und einer Vorliebe für ungewöhnliche Soundeffekte arbeitete mit Stan Getz und Chick Corea zusammen. Und gewann prominente Fans wie Stevie Wonder. Kurz nach Veröffentlichung ihres elektrisierenden Debütalbums verbüßte Purim eine 16-monatige Gefängnisstrafe wegen Besitzes von Kokain mit Verkaufsabsicht. Doch der Gefängnisdirektor von Terminal Island erlaubte ihr immerhin ein All-Star-Konzert im Gefängnis. Nach ihrer Haftzeit setzte sie ihre Karriere fort. Und wurde zur „Queen of Brazilian Jazz“.
Was wir damals sagten:
„Flora Purim ist eine Brasilianerin, die aussieht wie ein leuchtender Kakadu. Und nicht so sehr singt, sondern ihre Stimme instrumentalisiert. Sie klingt wie die nächste große Jazzsängerin. Ihr Perkussionist-Ehemann Airto Moreira leitet die unglaublich heiße Band auf diesem Album. George Duke am Klavier, Joe Henderson an den Blasinstrumenten und Stanley Clarke am Bass. Floras Debütalbum zählt zu den besten, die dieses Jahr aus der Jazzwelt kamen.“ – Stephen Davis, RS 166 (1. August 1974)
Huey Simmons, „Burning Spirits“
Huey Simmons (auch bekannt als Sonny Simmons) stammte aus San Francisco und Oakland. Gemeinsam mit Saxophonisten wie Pharoah Sanders und Dewey Redman. Mit diesem glühenden Doppelalbum zeigte er sein ganzes Können. Von mitreißenden Tracks wie „New Newk“ bis zu Weltraumreisen wie „Things and Beings“. Leider wurde Simmons nach diesem Album obdachlos. Und musizierte viele Jahre auf der Straße, bevor er in den 90ern sein Leben und seine Karriere neu ordnete.
Was wir damals sagten:
„Simmons und Freunde haben die Entwicklungen der letzten zehn Jahre – von Bop zu Freedom, von Ornette zu Trane, von Dolphys ‚Out There‘ zu Miles’ ‚Bitches’ Brew‘ – komprimiert in ein ständig wechselndes Kaleidoskop aus Räumen und Dichten, das vieles von dem, was gerade angesagt ist, im Vergleich blass erscheinen lässt. Wenn du dieses Jahr nur eine Jazz-LP kaufst, dann diese.“ – Bob Palmer, RS 97 (9. Dezember 1971)
Robin Kenyatta, „Stompin’ at the Savoy“
Jazz-Rock-Fusion gab es 1974 zuhauf, doch die Vorstellung von Jazz-Reggae war revolutionär. (Reggae hatte sich in den USA noch nicht durchgesetzt, obwohl alle damit rechneten.) Saxophonist Robin Kenyatta scheute sich jedoch nicht, beide Welten zu vereinen, und coverte sogar so ungewöhnliche Stücke wie „Jessica“ von den Allman Brothers – was wir als „ein abwechslungsreiches und lohnendes Album, Kenyattas bestes bei weitem“ bezeichneten. Kenyatta zog später nach Europa und gründete eine Jazzschule in Lausanne, Schweiz – wo er 2004 starb.
Was wir damals sagten:
„Die Kombination aus straffem, repetitivem Reggae und improvisierten Soli scheint zunächst unlogisch, aber John Coltrane und seine Nachfolger haben gezeigt, dass man über dröhnend-trancelastigen Rhythmuslinien interessante Melodien bauen kann – und Reggae bietet viel rhythmisches Potenzial. Kenyatta, ein einstiger Flüchtling aus der Avantgarde der Sechziger, verwandelt Allen Toussaints ‚River Boat‘ mithilfe der Kingston-Rhythmusgruppe, die auch Paul Simon und Jimmy Cliff begleitete, in eine stampfende, schwebende Freude.“ – Bob Palmer, RS 175 (5. Dezember 1974)
The Phil Woods Six, „Live from the Showboat“
Phil Woods spielte mit Größen wie Bill Evans und Dizzy Gillespie und heiratete in klassischer Jazzmanier die Witwe von Charlie Parker. 1977, im selben Jahr, in dem er das Altsaxophon-Solo in Billy Joels „Just the Way You Are“ spielte, stellte Woods eine feine Band zusammen und veröffentlichte ein großartiges Album, das den Bebop als Kunstform der Siebziger lebendig hielt – „ein großartiges Verkaufsargument für die Kunst der Jazzimprovisation“.
Was wir damals sagten:
„Abgesehen von einigen Musikern der schwarzen Avantgarde ist Phil Woods der interessanteste lebende Altsaxophonist. Er ist in den Vierzigerjahren verwurzelt, doch sein Stil entwickelt sich ständig weiter; er ist so frei erfinderisch, wie es ein Mainstreamer nur sein kann. Zudem spielt er so lyrisch wie der verstorbene Paul Desmond, aber stets mit mehr Wucht: Da er Pyrotechnik schön erscheinen lässt, ist er maßgeblich daran beteiligt, das Jazz-Altsaxophon über Charlie Parker hinaus zu entwickeln.“ – Michael Rozek, RS 247 (8. September 1977)
Larry Coryell, „Spaces“
Auf diesem Album tat sich Larry Coryell mit dem ebenfalls führenden Fusion-Gitarristen John McLaughlin zusammen – und beide trieben sich gegenseitig „zu immer neuen Höhen der Virtuosität“. Auf elektrischen wie akustischen Sechssaitern spielten sie ein Instrumental nach dem anderen – mit hypnotischer Wirkung. Wie stark war ihre Chemie? Zwei Jahre später gründeten sie gemeinsam The Guitar Trio, mit Flamenco-Gitarrist Paco de Lucia.
Was wir damals sagten:
„Ihr schnelles Denken und ihre flinken Finger sind phänomenal – ebenso ihr Zusammenspiel; sie kommen sich nie ins Gehege, was bei den atemberaubenden Tempi erstaunlich ist. Beide Spieler verstehen ihr Instrument tiefgreifend, seine Tradition und Literatur, sodass Etiketten wie ‚Rock‘, ‚Jazz‘ oder ‚Klassik‘ keinen Sinn machen. Sie brennen einfach – und setzen dabei neue Maßstäbe für moderne, improvisierte Gitarrenkunst.“ – Bob Palmer, RS 79 (1. April 1971)
Anthony Braxton, „New York, Fall 1974“
Braxton, früher Mitglied der Gruppe Circle (mit Chick Corea), gab mit diesem Album sein eindrucksvolles Major-Label-Debüt, mit Musik, die zugleich experimentell und gut hörbar war, wobei sein Saxophon durch kantige Rhythmen schwebte. Wir sahen in dem Album ein Signal – Braxton habe sich als „eine der bedeutendsten Jazzstimmen der Siebziger“ etabliert. Dieses Versprechen erfüllte er: über 100 Alben, Professor an der Wesleyan University und 1994 Träger des MacArthur-„Genie“-Stipendiums.
Was wir damals sagten:
„Wo andere Jazzkünstler ein Mandala bevorzugen würden, ziert Braxton sein neues Albumcover mit sechs rätselhaften Diagrammen; streng im Umriss, doch seltsam evocativ in Bezug auf die Musik darin. Braxtons Gespür für Klang verleiht selbst seinen methodischsten und präzisesten Stücken eine berührende Melancholie – als würde Charlie Parker, verloren im Inneren einer nuklearen Reaktion, Improvisationen inspiriert von mathematischen Theoremen spielen.“ – Jim Miller, RS 189 (19. Juni 1975)
Don Cherry, „Eternal Rhythm“
Don Cherry – vielen Popfans heute als Stiefvater der Sängerin-Rapperin Neneh Cherry („Buffalo Stance“) bekannt – war eine bedeutende Figur des Avantgarde-Jazz und spielte lange Flöte und Pocket-Trumpet an der Seite von Ornette Coleman. Dieses ursprünglich 1968 in Westdeutschland veröffentlichte Album galt schon bei seiner späteren Veröffentlichung in den USA als Underground-Klassiker. Es basiert stark auf balinesischen Gamelan-Instrumenten und verschmilzt diese mit Blues, Gospel und Schönheit.
Was wir damals sagten:
„Ewig klingt auch ‚Crystal Clear‘, das auf beiden Seiten erscheint. Das Thema ist eigentlich ein vierstufiges Skalenmuster aus Bali; die Bläser werfen es sich spielerisch zu… ‚Turkish Prayer‘ ist eine wunderschöne, wehmütige Trompetenmelodie mit nahöstlichem Einschlag. Auch die anderen Themen sind vielfältig, doch es wirkt nie überladen oder künstlich eklektisch – sie entstehen ganz natürlich aus den kaleidoskopisch wechselnden Texturen des Albums.“ – Bob Palmer, RS 117 (14. September 1972)
Gato Barbieri, „El Pampero“
Der argentinische Tenorsaxophonist Gato Barbieri spielte 1971 beim Montreux Jazz Festival ein 3-Uhr-morgens-Set mit einer Ad-hoc-Band, darunter der großartige Schlagzeuger Bernard „Pretty“ Purdie (der mit Aretha Franklin in die Schweiz gekommen war). Dieses Album dokumentiert den mitreißenden Auftritt. Im folgenden Jahr gewann Barbieri einen Grammy für die Filmmusik zu Marlon Brandos Skandalfilm Der letzte Tango in Paris.
Was wir damals sagten:
„Gatos große Stärke liegt in dem riesigen, hohen, wilden Ton, den er aus dem Tenorsaxophon holt, und in seiner neuartigen Verbindung südamerikanischer rhythmischer Strukturen und Melodien mit der expressiven Kraft, wie sie Coltrane, Coleman und Albert Ayler entwickelt haben. Die große Faszination seiner Musik liegt in der Apotheose herzzerreißend schöner Melodielinien… in brodelnde, implodierende Rhythmusfässer und den aufsteigenden Ausdruck tiefster Gefühle über das Tenorsaxophon.“ – Stephen Davis, RS 120 (26. Oktober 1972)