Die Pop-Rekonstrukteure The Boo Radleys leuchten die Extreme aus: Musik von ausgeschlafenen Träumern

Wake up, Boo! Martin Carr dämmert vor einem dieser riesigen Gläser Hefeweizen, die Engländer bei Deutschland-Visiten gerne bestellen. „Tut mir leid, ich bin schrecklich müde.“ Kein Problem, aber nach dem neuen Album, „Wake Up“ betitelt und gefüllt mit Songs übers Aulstehen, hätte man doch einen ausgeschlafeneren Menschen erwartet „Der Aufruf im Titel ist natürlich im übertragenen Sinn gemeint. Nicht als Predigt, etwas für die Umwelt zu tun oder die Labour-Party zu wählen. Es geht darum, seine Träume wahr werden zu lassen. Ich weiß, daß das naiv klingt, aber schau: Seit wir elf waren, haben wir davon geträumt, daß die Boo Radleys wahr werden. Wir konnten keine Noten lesen. Na und?“

Noten können sie noch immer nicht lesen. Das hindert sie nicht daran, opulente Streichersätze zu arrangieren. Um das Bild des Stars mit street credibility perfekt zu machen, sei nur noch erwähnt, daß sich die Band in Liverpool gegründet hat, jener Stadt, in der der englische Mythos des Working-Class-Pop geboren wurde.

Der Weg aus der grauen Masse war für die Boo Radleys nicht lang.

1990 debütierten sie mit „Ichabod And I“ als konventionelle Noise-Band. Routiniert ließen sie, was man im Königreich zu dieser Zeit tat, fürchterlich harmlose Melodien aus fürchterlich nettem Krach perlen. Gekonnt, aber: so what? Schon mit den nächsten Singles gewannen sie an Kontur. Die Arbeit am Geräusch wurde verfeinert, außerdem entwickelten sie einen Sinn für Schnörkel. Klassische Gitarren, spanische Trompeten „Everything’s Alright Forever“, das zweite Werk, bedret mit allerlei Schnörkeln. Doch von bloßem Ornament kann nicht die Rede sein: Die Musik lebt, bebt, atmet Sucht man einen Vergleich, drängen sich die Produktionen von Miles Davis und Gil Evans auf. Ähnlich wie der Trompeter und sein Arrangeur mit „Sketches Of Spain“ ungewöhnliche Kräfte freisetzten, so gewinnen die Platten der Boo Radleys durch die Verbindung von Symphonie und Song, von Operette und Pop.

Auf „Wake Up!“ leuchtet die Gruppe noch mehr die Extreme aus. Hits wie „It’s Lulu“ pulsieren schnell – aber mit dem letzten Stück, „Charles Bukowski Is Dead“, findet sich auch jene ausladene Komposition, die nach der Song-Auflösung innerhalb ihres Werks schlüssig ist: Über 20 Minuten werden verschiedene Harmonie-Linien aufgegrifffen und wieder fallengelassen. Es entsteht, was England schon immer wichtig gemacht hat: Art-Pop ohne Gesülze von der Kunst-Akademie. Musik von ausgeschlafenen Träumern.

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