Ab durchs Reich der Mitte

"Am Ende wird alles gut', sagt der Mongole. Gut zu wissen, denn das Hßrßisen der alten chinßsichßn Sßidenstrafje kann trotz moderner Fortbewegungsmittßl strapaziös sein. Fast sn strapaziös wiß in den Zeiten, als Kauflßutß diß altß Handelsroute mit riesigen Kamel-Karawanen bewältigen mußten. Und man braucht Geduld, denn stets heißt es: Warten!

Mr. Achgur hat noch einen Jasmin-Tee geholt. Wir kauern auf unserer Kiste, den Rücken an der warmen Außenmauer der Abflughalle. Es ist Abend, und man muß die Augen schon ziemlich zukneifen, wenn man beobachten will, wie die Sonne langsam hinter die schneebedeckten Gipfel des Pamir rutscht Jasmin-Tee beruhigt, meint Mr. Achgur, so ein paar Gläser seien gut für die Nerven – ein bißchen Geduld noch, bald, sehr bald komme das Flugzeug. Den Sinn seines Gebrabbels kann ich nur erahnen – seine fuchtelnden Armbewegungen und die Geräusche, die an einen Flugsaurier mit Weisheitszahnschmerzen beim Landeanflug erinnern, sind eindeutig. Ich nippe an meinem Tee, spucke einen Jasmin-Krümel auf den heißen Asphalt und bilde mir ein, ihn leise zischen zu hören. Aus über unseren Köpfen installierten Megaphonen plärren nämlich ununterbrochen die „Greatest Hits“ eines chinesischen Richard Clayderman. Es ist unerträglich heiß.

Seit acht Stunden sitzen MnAchgur und ich auf dem Rollfeld des Flughafens von Kashgar und warten auf die Maschine nach Peking. Warten, wie hier früher auch die Kaufleute gewartet haben: Auf die Karawanen, die aus Chang’an kamen, seidenbeladen, die Sandstürme und Dämonen der Taklamakan-Wüste endlich hinter sich und den Tod hart auf den Fersen. Und auf die Händler aus dem fernen Westen, die über den Pamir zogen, Richtung Cathay, wo die Seide angeblich auf Bäumen wuchs. In Kashgar hat man daraufgewartet, daß die Pässe frei würden, der Sturm sich legte, daß die Mongolen die Handelszüge passieren ließen. Und wenn man Brite war, hier oben, im entlegendsten Horchposten des Empires, dann hat man darauf gewartet, daß die Russen kommen. Statt dessen tauchte Mao auf, und seitdem warten mohammedanische Uyguren, Kirgisen und Kasachen auf den Tag, an dem sie keine nationalen Minderheiten, sondern wieder Staatsbürger erster Klasse sind. Man hat schon immer gewartet in Kashgar. Warten hat in Kashgar Tradition.

Eigentlich müßte Mr. Achgur nicht hier mit mir auf der Kiste hocken – er muß nämlich gar nicht fort. Leistet mir bloß Gesellschaft. Mr. Achgur ist mein Freund, ein Uygure undefinierbaren Alters. Wir haben uns im Basar der Stadt kennengelernt, einem mittelalterlichen Gassen-Labyrinth, in dem allen ideologischen Verkaufehemmern zum Trotz heute noch der gleiche Trubel herrscht wie zu Seidenstraßen-Zeiten. Kashgars Basar ist ein futuristisches Tausend-und-eine-Nacht-Szenario, ein kakophones, permanentes Chaos aus lauthals fluchenden Händlern, bis zur Schmerzgrenze plärrenden Fernsehern, keifenden Marktweibern, hupenden Autos und schreienden Eseln. Fliegenschwärme umkreisen den Besucher wie die Monde den Jupiter, es ist heiß und eng und hektisch, und weil nach einer Weile jedes Lehmhaus gleich aussieht, weiß man ziemlich schnell nicht mehr, wie um alles in der Welt man aus diesem Gassen-Gewirr bloß herausfinden soll. Und was macht man dann? Man fragt einen Polizisten, der gerade auf

einen radelnden Verkehrssünder einschreit, nach dem Weg aus dieser Vbrhölle.

Der Polizist betrachtet den Stadtplan, als ob er noch nie im Leben bedrucktes Papier gesehen hätte. Zwei weitere Polizisten tauchen auf und schauen meinem Beamten über die Schulter. Ich strahle zuversichtlich und zwinkere dem Verkehrssünder zu. Dann geht alles sehr schnell: Die beiden reißen meinem Polizisten meinen Stadtplan aus der Hand und zischen ihm etwas zu. Der Verkehrssünder reißt die Augen auf. Leute bleiben stehen: drei, vier, zwanzig, hundertfünfzig. In Nullkommanichts ist unser Straßentheater-Quintett von einer raunenden Männer-Menge umstellt, die immer unruhiger wird, je lauter die beiden Polizisten auf meinen Polizisten einschreien. Dann packen sie ihn und schütteln ihn und reißen ihm schließlich die Uniformjacke herunter.

Es war, als ob Uyguristan das entscheidende Tor in einem WM-Finale gelungen wäre. Ein ohrenbetäubender Jubel setzte ein, und die Polizisten hatten Mühe, ihren Kollegen aus der auf und ab hüpfenden Menge zu ziehen. Die Umstehenden fielen sich in die Arme, und kaum hatten sie sich gegenseitig wieder losgelassen, begannen sie damit, mir und dem Verkehrssünder wie wild auf die Schultern zu klopfen. „Allah-u-akbar!“-Rufe erschallten, Hüte flogen in die Luft, Greise rupften sich ihre langen weißen Barte und streckten die Arme gen Himmel. Ein spindeldürrer Methusalem trampelte die Mütze des Polizisten in den Staub. Dann umarmte mich der Verkehrssünder, und unter Aufbietung seiner gesamten Fremdsprachen-Kenntnisse sagte er: „Wrong policeman!“.

So habe ich also Mr. Achgur kennengelernt. Mr. Achgur, der mit „Silk Road Gold Chests“ handelt, riesengroßen, mit güldenem Blech beschlagenen Holzkisten. Aus Dankbarkeit hat er mir ein besonderes schönes Exemplar geschenkt. Das Ding sieht aus wie eine Kreuzung aus karibischer Schatztruhe und niederböhmischer Aussteuerkiste und wiegt mindestens 40 Kilo. Zum meinem Glück hat sich die Luftfahrtsgesellschaft beim Einchecken hartnäckig geweigert, Mr. Achgurs Kiste zu transportieren, und deshalb muß das Monster hier in Kashgar bleiben. Mr. Achgur hat jedoch versprochen, sie für mich aufzubewahren. Weil ich ihn vor dem falschen Polizisten gerettet habe. Und weil ich es den Besatzern aus Peking gezeigt hätte. Der Chinese würde sagen, ich hätte zwei Geier mit einem Pfeil abgeschossen.

So war das also in Kashgar, am Ende der Reise, nach 3500 Zug-Flugzeug-Auto-Kamel-Fahrradund-Zufuß-Kilometern entlang jenes uralten, verästelten Systems von Routen, Wegen und Pfaden, dem der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen irgendwann um das Jahr 1870 den benutzerfreundlichen Namen „Seidenstraße“ gegeben hat Natürlich ist hier auch mit anderem gehandelt worden: Porzellan, Spaghetti und Rhabarber kamen über die Seidenstraße nach Europa, im Gegenzug gelangten Juwelen, Eisenwaren, Pferde und der Buddhismus auf ihr nach China. Das alles taugte allerdings recht wenig zum Mythos, war kein Stoff, aus dem die Träume römischer Patrizierdamen waren – und so avancierte jenes aus Raupensekret gewonnene Gewebe zum sagenumwobenen Exportschlager Cathays. Kein anderes Handelsgut hat die Menschen der Alten Welt je so fasziniert wie die Seide, und wenn die amerikanischen G.I.S 2000 Jahre später nicht die Jeans im Invasions-Gepäck nach Europa gebracht hätten, der Siegeszug des hauchdünnen Textils aus dem Reich der Mitte wäre bis heute einzigartig.

Angetreten hat die Seide ihren Triumphzug in Chang’an, der Hauptstadt des Kaiser-Reiches. Hierhin wurden die Ballen aus den Webereien im Osten Chinas geliefert, hier beluden Händler die tausend Kamele ihrer Karawanen für die beschwerliche Reise nach Westen. Chang’an heißt heute Xi’an, und wenn dessen Lage auch nicht hundertprozentig mit den Grundrissen der legendären Hauptstadt übereinstimmt, so nennt Chinas Tourismusbehörde die Stadt doch mit blumigem Fug und Recht die „Quelle der Seidenstraße“ (wobei man allerdings über die grammatikalische Richtigkeit des Slogans „Welcome to Open City Silk Ancient Road Gate!“, der auf einem feuerroten Banner über der Stadtmauer weht, durchaus geteilter Meinung sein kann…).

In Xi’an habe ich mich zum ersten Mal mit der Staatsmacht angelegt. Oder besser gesagt: sie sich mit mir. Wegen meines normalen Tburistenvisums und der im voraus bereitgelegten Erklärung, eine betuchte Großmutter habe ihrem Enkel die Reise als Belohnung zum Abschluß seines GeschichtsStudiums geschenkt, witterte eine Armada von Staatsbeamten gleichermaßen Feind und fette Beute. Mit dem Resultat, daß spätestens drei Minuten nach dem Einchecken in jedes Hotel ein Überfall-Kommando im Zimmer steht: Ein Trio aus zwei dumpf schweigenden Männern mit billigen Sonnenbrillen samt einer bildhübschen, eloquenten und ideologisch auf böse Kapitalisten abgerichteten Fremdenführerin, die alsbald einen Fragenkatalog aus Stasi-Restbeständen abschießt Warum reist Du allein? Wo ist Dein Visum? Warum willst Du nicht zu den Terracotta-Soldaten? Wie heißt Deine Großmutter?

Nach etwa einer Viertelstunde gelingt es mir, die Besucher auf den Balkon zu locken – was aber den beiden Sonnenbrillen unangenehm zu sein scheint. Und prompt werden die Fragen zu Befehlen: Keine Besuche auf dem Zimmer! Auch nicht tagsüber! Schau Dir die Ausgrabungen an! Fahre nicht nach Kashgar – dort gibt es Unruhen! Buche eine Fremdenführerin – alleine verlaufet Du Dich! Ich komme mir vor wie auf einem sprechenden Monopoly-Brett, und gemäß Spielanleitung fährt genau jetzt ein blaulichtwerfender Polizei-Pickup unter dem Balkon vorbei – mit einem Pfahl auf der Ladefläche, an den ein Sträfling gekettet und mit weißer Kapuze über dem Kopf Richtung Steinbruch-Exekution gefahren wird. Die beiden Polizisten winken mit ihren Maschinenpistolen. Ich versuche abzulenken und zeige auf das Banner mit chinesischen Schriftzeichen, das die Hotelleitung am Balkongeländer befestigt hat „What does it mean?“

„It say: Welcome to our foreign guests.“

JBut your foreign guests cannot read Chinese™“

„es..- Ttbu’re welcome anyway.“

Nächster Stop: Dunhuang. „Ein Jahr geblieben – keine besonderen Vorkommnisse“, hat Marco Polo in seinen Reiseaufzeichnungen notiert, und irgendwie kann man das nachvollziehen. Hinter Dunhuang beginnt die Wüste, und zwar eine mit dem so schön klingenden Namen „Taklamakan“, was soviel heißt wie: „Wer hineingeht, wird nicht wieder herauskommen.“ Beruhigend. Keine zehn Minuten dauert es, bis man mit dem Fahrrad der Marke „Fliegende Taube“ von Dunhuang zu den Mingsha-Dünen geradelt ist, die an den Rändern dieser immergrünen Oase nagen wie Karies am Zahnfleisch. Die Dünen sehen so aus, wie man als Kind die Wüste im Zeichenunterricht gemalt hat: riesige, absolut ebenmäßige und goldgelbe Sandhaufen, die von jetzt auf gleich beginnen und bis in alle Ewigkeit reichen. Totenstill und majestätisch liegen sie da, und bereits der Kamm der ersten Düne ist derart breit, daß er gewissermaßen zum Gipfelsturm einlädt Leider unterschätzt man die Kombination aus schienbeintiefem Einsinken und Spätnachmittags-Temperaturen gerne ein wenig, und nach etwa einem Drittel Düne muß man eine Zwangspause im Sandkasten einlegen. Weit unten, auf dem Parkplatz, halten vier, fünf Busse. Eine unübersehbare Menge chinesischer Touristen steigt aus, und man ahnt schon, daß es mit der erhabenen Stille in der Wüste ziemlich bald vorbei sein wird. Also rafft man sich auf und stapft mühsam weiter, während der Lärmpegel dank kreischenden Kindern, schreienden Erwachsenen und jaulenden Ghetto-Blastern hinter einem unverschämt schnell ansteigt. Ab ich mich das nächste Mal umdrehe, ist die Vorhut des bergsteigenden Ameisenhaufens unmittelbar hinter mir, und da der Kamm für Überholmanöver einfach zu schmal ist, rutsche ich zur Seite und beschließe, mich für den Rest meines Lebens dankbar an den wenigen, bereits erlebten Einsamkeits-Momenten zu delektieren und das hier einfach zu vergessen. Zehn Minuten später ist der drängelnde, schubsende Gipfel-Treck vorbeigezogen, und nur eine etwa 80jährige, permanent vor sich hinschimpfende Großmutter kommt mir auf dem Rückweg noch entgegen.

Dazu muß man wissen, daß Drängeln hier die normale Art der Fortbewegung ist Wenn man mit einem chinesischen Rentner-Ehepaar im Aufzug fahrt, kann man beobachten, wie beide zur Tür treten, wenn der Lift langsamer wird, und sich dann gegen- und miteinander aus der gerade mal spaltbreiten Öffnung quetschen. Und wenn auf einem Flughafen die Türen der Wartehalle geöflnet werden, stürmen sämtliche Passagiere quer über das Rollfeld (Flüge mit chinesischen Airlines gelten mit Abstand als die unsichersten der Welt), um anschließend minutenlang die Gangway zu verstopfen – wobei das laut zeternde Knäuel Menschen ununterbrochen mit Fäusten, Regenschirmen und am Bügel geschwungenen Handtaschen aufeinander eindrischt.

Neben der hohen Kunst des Drängeins ist das geduldige Warten weiterer Hauptbestandteil einer Reise durch das Land des Lächelns. Gelächelt wird eher wenig, doch gedrängelt wird überall beliebte Warteorte sind ebenfalls die Flughäfen, oder Hotelzimmer ganz in der Nähe, in denen der Möchtegern-Passagier dem Abflug entgegenharren darf. Vorher muß er allerdings sein Gepäck durch die Gluthitze und über die eine oder andere Stadtautobahn zu einem meist „Airport-Hotel“ genannten Kasten in stalinistischer Betonplatten-Bauweise schleppen. Dort weist ihm eine angesichts 200 neuer Gäste resdos überforderte Rezeption mehr oder weniger schnell ein mehr oder weniger luxuriöses Domizil zu, in dem er dann die nächsten Stunden mit Whiskey-Trinken, Schlafen oder dem ausgiebigen Studium der diversen Kakerlaken-Spezies verbringen kann.

So wartet man also, immer und überall. An gottverlassenen, fliegenumschwärmten Haltestellen auf den Bus, im Hotel auf das Zimmet, aufstockfinsteren Bahnhöfen auf den Zug. Meijou ist das meistgehörte Wort auf einer China-Reise, meijou, meijou: Geduld, Geduld. Meijou ist aber immer noch besser als mei banfa, was soviel wie „Es gibt keine Lösung“ heißt und das Ende aller Reiseverbindungen signalisiert. Solange man das nicht hört, besteht noch Hoffnung. In Liuyuan, einem Wüstenbahnhof in malerischer „Spiel mir das Lied vom Tbd“-Szenerie, hat mich die zuständige Oberschaffherin von morgens neun bis abends um halb acht mit meijous vertröstet Als sich der Zug dann endlich an den Bahnsteig schleppte,

stürmten meine 1017 Mitwartenden die Waggons wie Lawrences Araber einstmals die türkischen Nachschub-Lieferungen. Worauf meine resolute Schaffherin die Menge zur Raison brachte, indem sie mit einem langen Bambusstock in der einen Hand auf die den Zug enternde Meute einschlug. Mit der anderen Hand zog sie mich wie ein Gepäckstück hinter sich her.

Das Reisen auf Gleisen kann in China übrigens recht bequem sein – man sitzt auf komfortablen Betten, betrachtet die vor dem Fenster vorbeiziehende Wüste und bedauert im Nachhinein die Seidenhändler, die auf dem gleichen Weg damals von Wasserloch zu Wasserloch getorkelt sind und mit etwas Glück alle paar läge eine altersschwache Gazelle vor ihren Flitzebogen bekommen haben. Allerdings muß man bezweifeln, daß es auf Gottes weiter Welt ein noch schlimmeres Eß-Erlebnis gibt als das in einem Speisewagen der chinesischen Eisenbahn. Es ist mindestens 50 Grad heiß, eng, und jeder der 79 Anwesenden schmatzt, schlürft, spuckt oder wirft mit abgenagten Hühnerknochen um sich. Mit Hilfe meines Wörterbuches (und kurz vor dem finalen Kreislaufkollaps) bestelle ich mir in dieser schwankenden Dante’schen Vorhölle Reis und Bohnen und nehme neben einem Herrn Platz, der mir zur Begrüßung den Rest eines Hühner-Fußes auf den Schoß spuckt.

19 Waggonstunden später. Mein immer noch leerer Magen und ich sind der felsenfesten Überzeugung, daß uns die schätzungsweise 27 archäologisch interessanten Fundstätten in den diversen Wüsten rund um Turpan scheißegal sind. Die islamische Stadt liegt 150 Meter unter dem Meeresspiegel, und die Sonne nutzt jeden einzelnen dieser Meter bis Normalnull schamlos aus. Etwa zwei Stunden brauche ich, um mit der chinesischen „Park and Ride“-Variante aus Bus und Eselskarren vom Bahnhof in die Innenstadt von Turpan zu gelangen. Obwohl es fast sechs Uhr am Abend ist, zeigt das Thermometer noch immer aufheiternde 46 Grad an, und ich ertappe mich dabei, daß ich den Refrain von Jingle Beils“ vor mich hinsumme. Als sich die Fata Morgana aus schattenspendenden Weinreben, Tischen und einem „Cold Beer“-Schild als handfeste Realität erweist, sind die Grabhügel und Mauerreste da draußen in dieser Gluthitze endgültig abgehakt.

Nach einer sorgfaltigen Prüfung diverser Teller voll kalten Hammelfleisches, eingelegten Paprikas und frischen Fladenbrots ist einem dieses brütend heiße Turpan schon gar nicht mehr so unsympathisch. Anscheinend wird den Menschen hier die Seelenruhe mit in die Wiege gelegt; jedenfalls bewegt sich ein jeder in slow motion, und selbst die u ygurischen Händler im Basar feilschen bloß mit jenem Minimum an Energieaufwand, das hohe Dosen Valium vermuten läßt. Vielleicht sind ja die Leute auch nur hundemüde – die halbe Stadt sitzt nämlich bis in die Nacht draußen und trinkt süßen Wein unter Markisen aus Reben, durch die Allah anscheinend nicht durchsehen kann. Dann sind die Temperaturen endlich halbwegs erträglich, die Luft riecht nach Oleander, gebratenem Hammel und Räucherstäbchen, und Motten umschwärmen die Gaslaternen an den Straßen. Später ist es, als breite sich die Stille der nächtlichen Wüste rundum über Turpan aus. Nette Stadt Nach Ürümqi kann man von hier nur mit dem Auto fahren. Besser gesagt: Man muß sich fahren lassen. Mietwagen, mit denen jeder hinkommen kann, wo er hin will, sind der Staatsmacht suspekt und folgerichtig verboten. Da ich Peking mittlerweile sowieso verdächtig bin, schickt man mir morgens um halb funfeinen Chaffeur namens Mr.Ma (samt zwei schweigenden Begleitern) ins Zimmer. Die Tür geht übrigens auf, ohne daß ich mein Bett verlassen muß.

Mr. Ma erweist sich als ein nimmerversiegender Quell an guter Laune und Sangesfreude. Bereits beim Einsteigen stimmt er ein Potpourri populärer chinesischer Volksweisen an, die er auf Grund mangelnder Textkenntnisse vorzugsweise in der „Lalala“-Version darbietet. Wir fahren los, durch endlose Stein- und Geröllwüsten Richtung Horizont, vorbei an grasenden Kamelherden und rotglühenden Lehmbergen, während Mr. Ma singt.

Er singt auch noch, als es draußen plötzlich stürmisch wird und der Himmel mir-nichts-dir-nichts eine apokalyptische Färbung annimmt. Dann bricht das über unser hinein, was die Nomaden der Gobi ganz passenderweise den „Schwarzen Zorn“ nennen, und Mn Ma wird mucksmäuschchenstilL Der Sturm schleudert Sand und Kiesel gegen die Frontscheibe, und es kracht und knirscht ganz fürchterlich. Als wir anhalten, kann man keine drei Meter weit mehr sehen.

Fünf Minuten später ist das Inferno schon vorbei, doch unsere Windschutzscheibe sieht aus wie das Netz einer sturzbetrunkenen Spinne. Um Mr. Ma ein wenig zu trösten, trällere im Gegenzug ich ihm nun eine Auswahl meiner Lieblingmelodien vor. „Powderfinger“ von Neil Young heitert ihn nicht auf, und weder bei „Tom Traubert’s Blues“ von Tom Waits noch bei Mick Jaggers „Angie“ huscht auch nur ein Hauch des Erkennens über seine eingefrorenen Gesichtszüge. Erst als ich ihm vor lauter Verzweiflung die russische Nationalhymne vorbrumme, lacht Mr. Ma wieder. Als wir in Ürümqi ankommen, singen wir noch immer lauthals „Taaataaatatataataaa“ und klopfen dazu den Takt aufs Armaturenbrett.

Das Sinnvollste an einem Besuch im Steinkohle-Moloch Ürümqi ist der unverzügliche Erwerb eines Flugtickets nach Kashgar. Schon sämtliche historischen Seidenstraßen-Reisenden haben kein gutes Haar an der Stadt gelassen, deren trügerischer mongolischer Name so viel wie „Zauberhafte Wiesen“ bedeutet: Marco Polo beschrieb ihr Klima nicht zu unrecht ab „unheilvoll“, Dschingis Khan machte wohlweislich einen weiten Bogen um das „Nest von Pferdedieben“, und die kunstschätzeklaubenden „Foreign Devils“ mußten sich in Ürümqi mit merkwürdigem Spinnengetier herumschlagen, dessen Kauwerkzeuge, so der deutsche Archäologe Albert von la Coq, „beim Fressen gräßliche Geräusche erzeugen“.

Aber immerhin gibt es in Ürümqi ein Hotel einer international renommierten Kette, in dem des Kanzlers Handelsvertreter mit Abgesandten aus Washington zur Vorsicht nur Fried Rice löffeln und dabei argwöhnisch zu den Tellern ihrer chinesischen Geschäftspartner hinüberlugen. Um den im Laufe des Abends zwangsläufig immer lauter werdenden, in babylonischer Sprachvielfalt geradebrechten Diskussionen über Umsatz-Tabellen, CD-Raubpressungen und (natürlich) die Frauen zu entfliehen, ziehe ich mich in die Bar im Dachgeschoß des Hotels zurück. Angesichts der atemberaubenden Bedienung übersehe ich allerdings das Schild mit der Aufschrift „Kara O.K.“.

„bu want sing?“

„No want sing. Just drink.“

„Why not sing? Beautiful voiee!“

„No. Just a beei; please.“

„Beer good. Come, sing. Here. Chinese song. bu read words, you sing.“

„I cannot read Chinese. How could I sing?“

„Why not sing? Easy. Beautiful voiee! bu married?“

Beschwören kann ich es nicht, aber es hat wahrscheinlich Momente im Leben des Odysseus gegebenjahre nach seiner triumphalen Rückkehr vom Trojanischen Krieg, wo er auf dem Sofa lag, genüßlich an seinem Wein nippte und zu seiner schönen Penelope murmelte: „Weißt Du, das war damals eigentlich ein ziemlich klasse Trip.“

Das ist einer der seltsamsten Aspekte des Reisens: Höhen und Tiefen, durch die Mangel der Erinnerung gedreht, bekommen nach Jahren lapidare Sanftheit Vergessen sind auf einmal die Hitze, der Hungen das undefinierbare Essen samt seiner Begleiterscheinungen, vergessen die Tage des frustrierenden Wartens auf verlassenen Wüsten-Bahnhöfen und in schäbigen Löchern, die man hier als Hotelzimmer bezeichnet. Am Ende, sagt der Mongole, am Ende wird alles gut.

Ach so: Das Flugzeug ist dann übrigens ziemlich bald gekommen. Mr. Achgur hat am Ende des Rollfelds gestanden und zum Abschied gewunken. Und die Sonne ist ganz langsam hinter dem Pamir versunken und hat meine. Kiste golden glänzen lassen. Wie die i Dünen der Wüste da draußen.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates