Am Ende der Fahrbahn

Zum 20. Todestag von Jörg Fauser sind die letzten 169 Seiten Roman erschienen, die er geschrieben hat: Fragment eines ehrgeizigen Projekts - und eines Abschieds

Auch 20 Jahre nach seinem Tod in jener ominösen Nacht des 17. Juli 1987 reißen die Spekulationen darüber nicht ab, was gegen vier Uhr auf der A 94, Fahrtrichtung München, auf Höhe Feldkirchen geschah, als Jörg Fauser, von einem LKW erfasst, gerade mal 43-jährig starb. Viele sehen in Fausers plötzlichem Abgang eher unromantisch das logische Ende eines Autors, der schneller und gefährlicher lebte als andere – und dementsprechend früher erlosch.

Unstrittig ist, dass Fauser bis zu seinem Tod an einem Roman schrieb, der den Arbeitstitel „Die Tournee“ trug (Alexander Verlag, 19,90 Euro); einem ambitionierten, mit architektonischer Präzision und Klarheit komponierten Stück Prosa über das Innenleben eines Tourneetheaters, das offenbar – und dies bezeugt das subtile, aus der Position des Insiders geschriebene Nachwort des einstigen Suhrkamp-Lektors und Fauser-Freundes Rainer Weiss – Fausers Abschied von der erzählerischen Langstrecke besiegeln sollte. „Denn am 24. März“, so Weiss, „hatte Jörg Fauser mir erzählt, dass er nach seinen Tourneetheater-Recherchen und nach dem Abschluss des Romans .Tournee‘ endlich Theaterstücke schreiben wollte.“

Geblieben von Fausers begonnenem Buchvorhaben, das vor dem Hintergrund der darin mitgelieferten Herausgeber-Informationen als eine Art „Schwellenbuch“ gelesen werden muss, sind gerade mal 169 Seiten: das sprachlich durchgebildete, mit den altbekannten Fauser-Qualitäten wuchernde Fragment eines auf insgesamt drei Teile veranschlagten Romans, mit welchem der Autor nichts Geringeres im Visier hatte als den endgültigen Durchbruch; den lucky punch in die staunende Visage eines Feuilletons, als dessen Held der Mann aus Frankfurt nie taugte.

169 Seiten: zu wenig, um damit die Sehnsucht all derer zu stillen, die nicht genug haben können von seinem amerikanisch-knappen Ton, wie ihn seine großen (Lebens)-Romane „Das Schlangenmaul“ und „Der Schneemann“ bis heute konservieren; mehr als genug jedoch, um uns ein letzes, trauriges Mal vor Augen zu führen, welch herben Verlust der undurchsichtige Abgang dieses zu Lebzeiten unsterblich in Größen wie Fallada, George Orwell oder Joseph Roth vernarrten Autors für all jene bedeutet, die abonniert sind auf genau beschleunigte, an Hemingway geschulte Prosa ohne ein Gramm Fett.

Fausers Rohstoff war die „Wirklichkeit – und sein Ton von jener Sorte, mit der man das Blaue vom Himmel holt. Seine Prosa war atmosphärisch dicht, und seine Romane und Geschichten wurden von Figuren bevölkert, die alles andere als Abziehbilder sind. Bewertungen, die auch das nun vorliegende Fragment ein letztes Mal bestätigen. Denn wovon, bitte schön, schrieb dieser selbsternannte Rebell, wenn nicht von einem Leben voll grellem Licht und dunkler Schatten? Fauser betrieb seine nüchtern als „Recherche“ deklarierten Feldstudien in den unterschiedlichsten und nicht selten finsteren Milieus mit der Entschiedenheit eines Autors, der nur über das schreiben konnte, was er aus eigener Anschauung kannte.

So erweist sich denn auch sein „Tournee“-Fragement als Visitenkarte eines Schreibers, der das Dasein mit vollen Händen zu greifen suchte: anekdotenprall und imprägniert von den Rückständen eines nicht selten gefährlichen Lebens. Er zeigt Charaktere im Vorübergehen, ihre hektischen Aufstiegsversuche und jähen Abstürze. Rückt Menschen ins Bild, die geradezu sprichwörtlich auf Tournee sind; Wanderer allenthalben, festgehalten in ihrem Streben nach Glück oder einfach nur der großen Kohle. „Die Tournee“ ist so etwas wie ein bajuwarischhessisches „Shorts Cuts“ anno 1986, auf dessen Drehbühnen München und Frankfurt Geschöpfe wie die permanent zwischen Absturz und Ovationen lavierende Schauspielerin Natasha Liebling, der einstige SPD-Kämpfer Harry Lipschitz oder der schmierige Münchner Galerist Guido Franck ihre Standfestigkeit zu demonstrieren suchen. Verbunden wird das Ganze durch den Mann, der sich Charles Kuhn nennt und alle anderen in seine finsteren Machenschaften verstrickt. Denn sie alle wollen nur eins: den Lift nach ganz oben erwischen. Am Ende dieser Posse gibt es nur einen Gewinner: Kuhn. Und den Leser, der dessen Eskapaden amüsiert goutiert!

Der Autor Fauser selbst hatte mit seinem Roman abschließend das „ganz große Format“ im Blick, eine Art Kaleidoskop-Roman, wie er ihn von John Dos Passos‘ „Manhattan Transfer“ her kannte. Und so verschneidet sein Roman simultan kurze Alltagsszenen zur Großaufnahme einer Handvoll Menschen, die alles wollen und dabei fast alles verlieren. So wird kräftig agiert auf diesen 169 Seiten, auch wenn die Theaterbühne selbst nur selten die Kulisse dazu liefert. „Und so denke ich manchmal an mich selbst wie an einen großen Forscher, der irgendein unbekanntes Land entdeckt hat. Der Namen diese Landes ist Hölle“, notierte einst der englische Romancier Malcolm Lowry mit Blick auf seine inneren Dämomen, „aber es liegt im Herzen.“ Auch Jörg Fauser, diesem ruhelosen Pendler zwischen den Genres, dürfte dieses innere Territorium vertraut gewesen sein. Sein letzter, nie beendeter Roman jedenfalls legt nun – wenn auch burlesk verschleiert – ein letztes Mal eindrucksvoll davon Zeugnis ab.

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