Animal Collective – Das grosse Krabbeln

Animal Collective gelten als die Hipster-Band schlechthin. Nun haben die vier die aktuelle Version ihres schlauen Stilmixes auf einen harten Felsen erbaut: "Centipede Hz" ist ein überraschend lautes Rockalbum geworden - und handelt von Taußendfüßlern. Wir bitten um Erklärungen

Vergessen Sie Ihre Spinnen-Phobie – Tausendfüßler sind das neue Ding! Schauen Sie sich mal bei YouTube den Trailer des asiatischen 80er-Jahre-Schockers „Centipede Horror“ an: Eklig, wie die bis zu 20 Zentimeter langen Gesellen da aus den schreckstarren Mündern unterbezahlter Schauspieler krabbeln. Mit feucht glänzenden Chitin-Panzern und auf unzähligen Beinen wuseln sie mit atemberaubender Geschwindigkeit hin und her, vor und zurück.

Ein Tausendfüßler ist allerdings auch ein Wunder der Natur. Ein harmloses, uraltes Geschöpf, von großer biologischer Bedeutung, das uns allein durch seine Fremdartigkeit Furcht einflößt. Den meisten jedenfalls. Die amerikanische Band Animal Collective hat den Tausendfüßler jetzt zum Wappentier ihres neuen Albums erklärt. Es heißt „Centipede Hz“, und Fans des Vorgängers „Merriweather Post Pavilion“ könnte das Werk vielleicht ähnlich irritieren wie das nächtliche Getrappel vieler kleiner Füße auf der eigenen Bettkante. „Today’s Supernatura“ jedenfalls krabbelt flink und glitschig aus den Boxen – ein schillernd fremdartiges Pop-Ding: Wow, was da alles gleichzeitig passiert! Wilde Synkopen poltern übereinander, eine fette Rockgitarre setzt Akzente, dazu rasen irrlichternde Sounds quer durch den Raum, während im Hintergrund leise ein Harmonium schnauft. „Sometimes you got to get mad“, kreischt der Sänger fast hysterisch – man glaubt es ihm gern.

Animal Collective sind eine der wichtigsten Pop-Bands der Gegenwart. Anfangs oft unverstanden, mal in das Freak-Folk- und mal in das Hipster-Avantgarde-Fach gesteckt, eroberte das Quartett mit dem letzten Album Platz 12 der amerikanischen Album-Charts. Die Musiker hätten den Sound von „Merriweather Post Pavilion“ also ewig weiterspinnen können – so wie es andere Bands mit Erfolgsalben tun. Stattdessen ist „Centipede Hz“ ein Rockalbum geworden – mit lauten Gitarren und donnerndem Schlagzeug. Wie ist das passiert?

„Die Art, wie wir vor einer Produktion Songideen austauschen und Mails verschicken, erinnerte uns an die Bewegungen eines Tausendfüßlers: Die vielen Körperabschnitte und Beine, die scheinbar unabhängig voneinander operieren und dennoch wissen, wann sie gemeinsam starten und stoppen müssen“, krächzt die durch Interferenzen verfremdete Stimme von Josh Dibb aus dem Telefonhörer. Dibb, ein Viertel von Animal Collective, sitzt beim Frühstück in Baltimore, während ich mich bereits aufs Abendessen in Hamburg freue. Diese räumliche Entfernung, diese von jeder menschlichen Anmutung befreite Stimme charakterisieren das Gestaltwandelnde Wesen von Animal Collective besser, als es jedes Gespräch Auge in Auge könnte. Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, welches Hemd der Musiker trägt und ob er einen festen Händedruck hat. Alles ist bei Animal Collective Sample, Zitat, Überarbeitung, lässt sich aus dem Zusammenhang reißen, manipulieren und in einen neuen Kontext überführen. Die Gleichzeitigkeit von Millionen von Einflüssen, Reizen, Bildern und Tönen wird lediglich auf eine narrative (Song-)Struktur heruntergebrochen, eine Erzählung des Augenblicks.

„Wir wollten, dass das Album eine fremdartige Metaphorik besitzt, ohne deshalb gleich super-konzeptionell an einem entsprechenden Rahmen zu arbeiten“, sagt Josh, der sich Deakin nennt. Auch die anderen Bandmitglieder tragen Pseudonyme, manchmal verstecken sie sich hinter Tier-Masken. Panda Bear – mit Soloalben wie „Person Pitch“ und „Tomboy“ auch jenseits der Band ein Kritikerliebling – heißt eigentlich Noah Lennox. Avey Tare wurde auf den Namen David Portner getauft, Geologist hört auch auf den Namen Brian Weitz.

„Die Energie und die Sounds des Rock’n’Roll haben uns bei diesem Album sehr interessiert. Aber natürlich wollten wir keine Standard-Rockplatte machen. Die Idee mit dem Tausendfüßler half uns dabei, uns eine, Alien-Rockband‘ vorzustellen. Wie würde eine Radiosendung, eine Übertragung von ihrem Planeten zu unserem klingen? Wie würde sich das anhören, wenn Sounds weit durchs All reisen, von Interferenzen und Störgeräuschen durchdrungen?“ Möglicherweise wie ein transatlantisches Telefonat? Nein, denn die Idee von Animal Collective funktioniert vorzüglich. Die Fremdartigkeit von Insekten trifft auf einen eher schmutzigen, erdigen Sound: „Wie ein Tausendfüßler, der durch den Dreck zwischen Felsen krabbelt.“ Ein schönes Bild für das Album, nicht zuletzt deshalb, weil Josh natürlich nicht „Felsen“ sagt, sondern „Rock“.

Auch wenn bei Animal Collective permanent die Instrumente gewechselt werden und nach wie vor vieles aus dem Sampler kommt, ist Josh so etwas wie der Gitarrist der Band. An dem auf „Centipede Hz“ gesetzten Rock-Schwerpunkt ist er nicht ganz unschuldig, weil er sich 2007 nach den Aufnahmen zum Album „Strawberry Jam“ eine Auszeit genommen hatte. Bei Animal Collective ist so etwas üblich, vielleicht ist das der Unterschied zwischen Kollektiv und Band. Das „Hit-Album“ hat er deshalb übersprungen. Ob es Absicht war? „Bei, Merriweather Post Pavilion‘ gab es viele sehr sauber klingende Klanglandschaften, die stark auf Samples basierten. Das hat die anderen zuletzt wohl ein bisschen gelangweilt. Es ergibt auch keinen Sinn, auf die Bühne zu gehen, um ein paar Knöpfe zu drücken, ohne dabei einen Tropfen Schweiß zu vergießen.“ Ein unerwartetes Bekenntnis zum Rock’n’Rollertum. Josh denkt sogar darüber nach, ein paar große Verstärker in den Proberaum zu stellen und sie richtig laut aufzudrehen. „Es kann also gut sein, dass die Rock-Einflüsse auf mich zurückzuführen sind. Aber es war nicht allein meine Idee – wir stehen alle dahinter.“

Tatsächlich benutzt auch Panda Bear inzwischen ein traditionelles Schlagzeug – was den Stücken eine deutlich größere Dringlichkeit verleiht. Und trotzdem ist die Musik von Animal Collective noch immer ein Tanz zwischen den Welten. In „New Town Burnout“ hat man den Gesang des Riverside Middleschool Choirs in kleine Partikel zerhackt und zu einem komplexen Muster verwoben. Wer genau aufpasst, hört im Hintergrund das rhythmische Pulsieren der jubilierenden Kinder, während sich vorne abstrakte Beats ineinander verhaken.

Animal Collective, das ist aber auch die Geschichte von vier Freunden, die im Alter von neun Jahren auf einer Waldorfschule in Baltimore zusammentreffen. „Diese lange Vertrautheit führte zu großem gegenseitigen Respekt. Wir haben einen gemeinsamen Humor und interessieren uns oft gleichzeitig für bestimmte Themen. Unsere Freundschaft ist uns allen sehr wichtig“, betont Josh. Er ist der Einzige aus der Band, der heute wieder in Baltimore lebt – nach neun Jahren New York. Brian Weitz ist inzwischen in Washington, D.C. zu Hause, Noah Lennox und seine Familie wohnen in Lissabon. Das globalisierte Leben einer modernen Erfolgsband.

Früher war das anders: Vor dem mittelgroßen Erfolg des Albums „Sung Tongs“ (2004) gehörten Animal Collective zum Geheimwissen der Bewohner von Brooklyn. Ein Auftritt jenseits des Hudson Rivers, in Manhattan, war schon fast so etwas wie eine Tour.

In „Hipster“, seiner kritischen Abrechnung mit dem zwischen Williamsburg und Prenzlauer Berg boomenden Phänomen der jugendlichen Oberchecker, schreibt der New Yorker Autor Mark Greif über Animal Collective und tiernamenaffine Kollegen wie Grizzly Bear und Deerhunter: „Wenn ich mir die Videos dieser Bands anschaue, spüre ich die Atmosphäre einer Wellness-Orgie, versetzt mit psychedelischen Spurenelementen; ich höre Tierlaute und hübsche Beach-Boys-Harmonien und habe dabei ortlose, idyllische Enklaven vor Augen, wilde Strände, Wälder, eine liebliche, weitläufige, beherrschbare Natur. Passenderweise scheinen viele dieser Musiker die Angewohnheit zu haben, sich Tiermasken aufzusetzen und plüschige Kostüme anzuziehen.“

Greif hat natürlich recht: Ab Mitte der Nullerjahre entwickelte sich eine psychedelische Folkszene, die mit dem alten Rousseau-Diktum „Zurück zur Natur“ flirtete. Animal Collective spielten damals – zusammen mit der legendären Folksängerin und Hippie-Ikone Vashti Bunyan – die „Prospect Hummer“-EP ein und wurden eine Zeit lang zwischen Devendra Banhart und FourTet als Protagonisten des Freak-Folk bestaunt.

Dabei ist die Hyper-Modernität von Animal Collective kaum zu ignorieren: Die verschachtelten Songs der Musiker korrespondieren mit der Gleichzeitigkeit des Internets. Wie DJs spielen sie Samples aus den Klangarchiven des Netzes, mischen gefundene Sounds mit selbst gespielten Passagen und verbinden so Ost und West, Nah und Fern, Alt und Neu: „World Music ist dabei ein ziemlich großer Einfluss. Jeder in der Band ist beeinflusst von nicht-westlicher Musik“, behauptet Josh. Authentizität ist dabei nicht wichtig – auch wenn Animal Collective im September mit den mongolischen Kehlkopfsängern von Huun Huur Tu auftreten. „Es geht eher darum, die Grenzen der Vorstellung von Musik weiter zu verschieben.“

Keine Beschreibung der Musik kommt deshalb aus ohne das Attribut „psychedelisch“. Die Band Spacemen 3 hat den Aspekt des „Turn on, tune in, drop out“ mal in einem Albumtitel zusammengefasst: „Taking Drugs To Make Music To Take Drugs To“. Wie halten es Animal Collective damit? „Ich verstehe unter Psychedelia vor allem meine eigenen psychedelischen Erfahrungen“, sagt Josh, der sich hütet, in diesem Punkt für alle Musiker zu sprechen. „Natürlich habe ich im Lauf der Jahre mit psychedelischen Drogen experimentiert. Ich sehe das als eine Art Wahrnehmungsverstärker. Aber ob das einen Einfluss auf unsere Musik hat, ist schwer zu sagen. Wir gehen jedenfalls nicht ins Studio und werfen Acid und wir proben auch nicht auf Magic Mushrooms. Für solche abgefuckten Nummern ist unsere Zeit zu knapp, und dafür arbeiten wir zu hart.“ Wahrscheinlich hat er recht. Nicht Roky Erickson, sondern die durchdachte und dennoch ekstatische Musik von Can ist einer der wichtigsten musikalischen Einflüsse: „Für uns sind Can auf einer Stufe mit den Beatles.“

Wie sehr sich bei Animal Collective experimentelle Kunst und amüsanter Freak Out vermischen, zeigte ihr Happening „Transverse Temporal Gyrus“, das im März 2010 im ausverkauften New Yorker Guggenheim Museum stattfand. Nach dem halluzinatorischen 53-Minuten-Film „ODDSAC“ war dies die zweite Zusammenarbeit mit dem visuellen Künstler Danny Perez: Ein Spektakel im Stil der Sechziger – inszeniert mit den Technologien von heute. Im Rahmen von Tino Sehgals „Contemplating The Void: Interventions in the Guggenheim Museum“ hatte man die berühmte Rotunde von allen Kunstwerken befreit – zum ersten Mal in der 50-jährigen Geschichte des Gebäudes. „Wir produzierten vorher, jeder für sich, einen ganzen Haufen Musik“, erinnert sich Josh. „Dann haben wir entlang der Spirale ein 36-Kanal-Lautsprechersystem installiert. Mithilfe eines Open-Source-Programms, das die einzelnen Spuren miteinander verband und je nach Sound und Zeitverlauf verschiedene Kombinationen zusammenstellte, entstand ein zufälliger Sound, der durch die gesamte Spirale wanderte – von oben nach unten und zurück.“

Die Bandmitglieder Deakin, Avey Tare und Geologist steckten während des dreistündigen Spektakels in bizarren Kostümen: Sie sahen aus wie riesige weiße Sahne-Hasen in schwarzen Richterroben. Zusammen mit Danny Perez hatten die drei Musiker auch Videos und Artwork vorbereitet. Eine bonbonfarbene Bilderflut flackerte durch die Rotunde, rätselhafte Lichtobjekte taten ein Übriges – sehr zur Freude der durch einen Begrüßungs-Absinth sensibilisierten Zuschauer. „Es war ein künstlicher Dschungel, eine geometrische Landschaft, wo das Vogelzwitschern aus Oszillatoren kommt und die Brunftrufe aus Tieftönern, ein Platz für unergründliche Rituale“, schwärmte die „New York Times“. Die Musik von „Transverse Temporal Gyrus“, die sich durch die entsprechende Software bei jedem Abspielen neu organisiert, lässt sich auf der Seite http://ttg.myanimalhome.net/ übrigens kostenlos herunterladen.

Zusammen mit dem Album „Centipede Hz“ überbrückt das vielleicht ein wenig die Wartezeit, bis zum Auftritt von Animal Collective auf dem Rolling Stone-Weekender. Weil der im November stattfindet und dazu noch an der notorisch frischen Ostseeküste, ist mit dem Erscheinen von Tausendfüßlern allerdings kaum zu rechnen.

Animal Collective Live

Der vierte Rolling Stone-Weekender findet vom 16. bis zum 17. November am Weissenhäuser Strand statt. Neben Animal Collective sind u.a. dabei: Van Dyke Parks, Calexico, Kettcar, Tindersticks, Kid Kopphausen, Spiritualized, Two Gallants, Poliça, Ewert & The Two Dragons, The Civil Wars, Admiral Fallow, Phantogram, Father John Misty, Hannah Cohen und Vadoinmessico. Weitere Informationen und Tickets gibt es online unter www.rollingstone-weekender.de.

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