Berlinale, Tag 6: Wenn die Filmkunst eine fantastische ist

„Des Teufels Bad“, „Hako Otoko (The Box Man)“, „Pepe“.

Eine Schürze und ein Kopftuch, eine Babypuppe und ein totgeschlagener Hahn – das ist die Mitgift, die die naturverbundene Agnes (Anja Plaschg) bei ihrer Hochzeit in Empfang nimmt. Aus ihrem Elternhaus hat sie tote Insekten, getrocknete Kräuter und einen abgeschnittenen Finger mitgebracht. Der Finger soll Glück bringen, damit sie möglichst bald ein Kind zur Welt bringen möge. Das ist auch ihr sehnlichster Wunsch, aber der scheue Wolf (David Scheid) rührt Agnes nicht an. Bald beginnt sich die junge Frau zu fragen, was mit ihr nicht stimmt.

Der neue Film von Veronika Franz und Severin Fiala beginnt mit einer grausamen Tat. Eine Frau wirft ihr Kind in einen Abgrund, nach ihrer Beichte wird die Kindsmörderin hingerichtet und zur Schau gestellt. Als Mahnmal dient ihre verwesende Leiche, die Agnes im Laufe des Films immer wieder aufsuchen wird.

Tod und Verwesung sind in diesem finsteren Drama allgegenwärtig. Fische japsen nach Wasser, Würmer kriechen aus Wunden, alles riecht nach Untergang. Als sich ein Bauer in seiner Scheune aufhängt, wird die Leiche zwischen die Karkassen der verendeten Schlachttiere in den Matsch geworfen. Eine Beerdigung sei nicht möglich, mahnt der Pfarrer, denn „wer sich gegen das Leben und damit auch gegen den Herrn wendet, dessen Seele ist für immer verloren.“

Diese donnernden Worte werden Agnes im Kopf bleiben, die im Mittelpunkt des neuen Films der beiden Österreicher steht. Franz und Fiala sind mit ihrem Horrorfilm „Ich seh ich seh“ einem breiteren Publikum bekannt geworden, mit „Des Teufels Bad“ konkurrieren sie um die Berlinale-Bären.

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Angelegt ist der Film als historischer Psychothriller. Immer dichter wird der Nebel und immer dunkler der Wald, in dem die karge Hütte von Agnes und Wolf steht. Wir befinden uns am Ende des 18. Jahrhunderts, keine allzu angenehme Zeit, um zu leben. Die Welt besteht aus Matsch und Blut, der Mensch muss strampeln, um darin nicht unterzugehen.

Die gottgläubige Agnes aber strampelt nicht, sie ist nicht der Mensch, der funktioniert. Weder am Karpfenteich, wo sie neben ihrer verbitterten Schwiegermutter bestehen muss, noch im Haus, in dem sie bald ein Schatten ihrer selbst ist. Sich nach Nähe und Berührung sehnend irrt sie durch die dunklen Wälder, die noch den letzten Sonnenstrahl verschlucken. Bald heißt es, sie sei in „Teufels Bad“ gestiegen, womit man damals die Depression beschrieb.

Anja Plaschg spielt diese sensible und naturverbundene Frau, die sich im Gefängnis einer lieblosen Zweckehe wiederfindet, eindrucksvoll. Weiblicher Schmerz in konservativen Familienstrukturen habe sie schon immer beschäftigt, sagte die Schauspielerin in Berlin. Ihr körperliches Spiel, mit dem sie sich dem radikalen Exorzismus ihrer Figur unterwirft, geht einem lange nach.

Martin Gschlacht tastet mit seiner Kamera die dunkeln Landschaften nach Bildern ab, die das Innenleben der Hauptfigur spiegeln. Umgedrehte Kreuze, offene Fischmäuler und apokalyptisch flackernde Flammen wirken wir ein Winken aus der Hölle. Der silber glänzende Karpfenteich wird zum Morast, in dessen Dunkel es Agnes zieht. Gschlachts Ästhetik schließt an die Bilderwelten eines Hieronymus Bosch an, ohne sie wirklich zu zitieren. Diese intuitive und lichtempfindliche Handhabung der Fotografie kombiniert der Film mit Horror und Suspense, ohne dabei ins Gruseligere zu rutschen. Das Grauen, das den Bildern innewohnt, ist kein Hirngespinst, sondern entspricht den Umständen der Zeit.

Agnes gerät mehr und mehr in den Strudel ihres Wahns und wählt schließlich einen Ausweg, der nicht nur sie ins Unglück stürzt. Wie sehr dieser mit gesellschaftlichen Erwartungen und religiösen Dogmen verbunden ist, wird erst im großen Ganzen dieses auf historischen Aufzeichnungen basierenden Films erkennbar. „Des Teufels Bad“ ist das unwiderstehliche Porträt einer Kindsmörderin wider Willen und ein Weckruf für unsere Zeit, in der die Depression immer noch als eine der am wenigsten behandelten Krankheiten gilt.

Im Wettbewerb geht mit der dokumentarischen Fiktion „Pepe“ von Nelson Carlos De Los Santos Arias einer der ungewöhnlichsten Filme der Berlinale an den Start. Darin verschiebt der dominikanische Regisseur den magischen Realismus seines Kinos in die Welt von David Lynch.

„Pepe“

Seinen Titel hat der Film von einem Nilpferd, von dem wir gleich zu Beginn erfahren, dass es tot ist. Geisterhaft erzählt dieses entführte Wesen mit verzerrter Stimme seine Geschichte, die mit der jüngeren kolumbianischen Vergangenheit verbunden ist. Denn Pepe ist das erste und einzige Nilpferd, das je auf dem amerikanischen Kontinent getötet wurde. Wie es aus Afrika dahin gekommen ist und was es dort erlebt hat, erfahren wir in diesem Bericht aus dem Jenseits.

In eindrucksvollen Tag- und Nachtaufnahmen schafft De Los Santis Arias die Illusion einer autobiografischen Erzählung. Weil es aber so gut wie keine Originalaufnahmen von Pepe gibt, ist der ganze Film ein grandioser Brainfuck mit Anspielungen auf George Orwell, die Idiotie der Politik und deutlicher Kritik am Kolonialismus. Nelson Carlos De Los Santos Arias ist mit „Pepe“ eine gleichermaßen faszinierende wie verstörende Allegorie über das Fremde und das Befremdliche gelungen, wie man sie so noch nicht gesehen hat.

Den cineastischen Kommentar zum Kafka-Jahr 2024 liefert Gakuryu Ishiis „Hako Otoko (The Box Man)“. Der Japaner, der in seiner Heimat zur Speerspitze der Nouvelle Vague gehört, erzählt die skurrile Geschichte eines Mannes, der sich in einen Pappkarton zurückzieht und aus diesem heraus die Welt beobachtet. Als er Konkurrenz von einem Fotografen bekommt, bricht ein Krieg um die Identität des Pappkistenmannes aus. Auftragsmörder werden angeheuert, ein schwer erkrankter Fake-Arzt will ebenfalls in die Kiste schlüpfen und eine nackte Schönheit wird zur Geheimwaffe.

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Hauptdarsteller Masatoshi Nagase gebührt für seine absurd-geniale Performance als „Kai in der Kiste“ jede Anerkennung, noch nie dürfte ein Unsichtbarer einen solchen Eindruck auf der Leinwand hinterlassen haben. Die Handlung führt immer tiefer hinein in ein Labyrinth, aus dem es, ähnlich wie aus der Kiste, kein Entkommen zu geben scheint.

Die, die die Welt beobachten, fantasieren sie sich auch zusammen, lernen wir am Ende. Derart hält einem der Japaner nicht nur auf wundersame Weise den Spiegel vor, er erinnert auch daran, das die Filmkunst eine fantastische ist.

Monte & Culebra
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