Berlinale-Skandal: Warum nicht jede Pro-Palästina-Rede antisemitisch ist

Am Abschlussabend solidarisierten sich einige Berlinale-Preisträger mit Palästina. In teils drastischen Worten. Dafür werden sie nun als antisemitisch kritisiert. Dieser Vorwurf beendet schnell jede Diskussion. Wir brauchen aber mehr offenen Austausch und nicht weniger. Eine Nachbetrachtung.

„Die Schande von Berlin“ titelt die Süddeutsche Zeitung. So etwas dürfe sich nicht wiederholen, sagt der Regierende Bürgermeister. Und der Justizminister droht mit dem Strafrecht. Die Empörung gilt dem Abschlussabend der Berlinale, vor allem den Pro-Palästina-Reden einiger Preisträger. Sie wählten Worte wie „Apartheid“ und „Genozid“, die während der Zeremonie unwidersprochen blieben.

Man kann diese Reden ablehnen, natürlich. Es hätte ihnen schon während der Veranstaltung widersprochen werden können. Aber sie nun wegzuwischen mit einem pauschalen Antisemitismus-Vorwurf, ist falsch. Der Vorwurf des Antisemitismus ist ernst, er muss nachgewiesen und begründet werden, nicht einfach behauptet. Und die Reden gar zu kriminalisieren, wie nun von Marco Buschmann angedeutet, wäre ein gefährlicher Eingriff in die Meinungsfreiheit.

Was wurde überhaupt gesagt? Eine Rede, die für besonders viel Aufmerksamkeit gesorgt hat, ist die von Yuval Abraham. Der junge Regisseur, ein jüdischer Israeli, stand neben seinem Ko-Regisseur Basel Adra auf der Bühne und nahm den Preis für den Besten Dokumentarfilm entgegen. In ihrem Film „No Other Land“ geht es um eine palästinensische Ortschaft, die für einen Truppenübungsplatz der israelischen Armee abgerissen wird. In seiner Rede sagte Abraham – und das ist eine Passage, die besonders kritisiert wird:

„Ich bin Israeli, Basel ist Palästinenser. In zwei Tagen werden wir in ein Land zurückgehen, in dem wir nicht gleich sind. Ich lebe unter dem Zivilrecht, Basel unter dem Militärrecht. Wir leben dreißig Minuten voneinander entfernt, aber ich habe das Wahlrecht, Basel hat kein Wahlrecht. Ich kann mich frei bewegen, Basel ist eingesperrt im besetzten Westjordanland, wie Millionen andere Palästinenser. Diese Situation der Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit – sie muss enden.“

Das Reizwort „Apartheid“ sorgte sofort für Aufregung in Deutschland. Die Empörung beginnt und endet mit diesem Wort. Die Zustände, die Abraham beschreibt, die reale Ungleichheit, die er erlebt und gefilmt hat – sie wird von dem Furor um das Wort „Apartheid“ begraben. Die Wortwahl wird skandalisiert, untragbar oder unerträglich genannt – und die Diskussion damit beendet. Das scheint auch symptomatisch für den deutschen Umgang mit dem Krieg in Gaza. Abrahams Plädoyer für einen Waffenstillstand, mit dem er seine Rede beendete, muss da gar nicht mehr diskutiert werden.

Im Saal gab es Applaus für Abrahams Rede, auch vom anwesenden Kai Wegner, dem Regierenden Bürgermeister, und Claudia Roth, der Staatssekretärin für Kultur und Medien. Dieser Applaus wurde im Nachgang von verschiedenen Medien festgestellt und kritisiert, was Roth zu der Erklärung veranlasst hat, sie habe für Abraham applaudiert, nicht aber (so die Implikation) für Basel Adra, der neben ihm auf der Bühne stand. Wegner schrieb auf Twitter, die nächste Festivalleitung solle sicherstellen, „dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen“ – wie auch immer er sich das vorstellt: Als drastische Einschränkung der freien Rede?

Was wurde noch gesagt? Adra, der palästinensische Regisseur, sagte: „Es fällt mir schwer, diesen Preis zu feiern, wenn Zehntausende meiner Landsleute in Gaza von Israel abgeschlachtet und gemetzelt [slaughtered and massacred] werden. […] Ich bitte Deutschland darum, den Aufruf der UN zu respektieren und keine weiteren Waffen nach Israel zu schicken.“ Auch das gab großen Applaus im Saal – und scharfe Kritik und Antisemitismus-Vorwürfe danach. Seine Wortwahl ist hart und sorgte am Tag danach für Widerspruch: „Abgeschlachtet“ worden seien israelische Menschen und zwar von der Hamas, war als Reaktion zu lesen. Die Empörung über die Wortwahl überdeckt wieder den Inhalt des Gesagten: Adras Forderung nach Einstellung der Waffenlieferungen, also sein konkretes politisches Anliegen, fand wenig Beachtung – ebenso wenig wie Abrahams Aufruf zum Waffenstillstand.

Bei den heftigen Reaktionen, den Vorwürfen von Hetze und Hass, die ihnen entgegengebracht werden, könnte man vermuten, sie hätten für mehr Waffen und zu mehr Gewalt aufgerufen. Sie haben das Gegenteil getan. Das ist wichtig, und das sollte man nicht unerwähnt lassen, wenn man die beiden Filmemacher kritisiert. (Abraham bekommt Morddrohungen seit seiner Rede. Dutzende israelische Filmemacher haben sich mit ihm solidarisch erklärt.)

Es gab weitere Wortmeldungen, von Filmemachern, deren Werke nichts mit dem Nahost-Konflikt zu tun haben. Der amerikanische Regisseur Ben Russell, der eine Auszeichnung für die Nebenreihe „Encounters“ entgegennahm, trug eine Kufiya, ein „Palästinensertuch“, und bezeichnete Israels Vorgehen salopp, im Nebensatz dahingesagt, als „Genozid“. Eine Aussage, die sicher ganz anders zu bewerten ist als die von Abraham und Adra, und die eher wie der Versuch wirkte, sich noch einmal schnell und möglichst extrem zu positionieren.

Dass der Terror der Hamas nicht erwähnt wurde, dass es gar nicht um die israelischen Opfer, sondern nur um die palästinensischen ging, dass sich niemand mit der traumatisierten Bevölkerung Israels solidarisch erklärt hat – mit Ausnahme der Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek – diese Einseitigkeit wurde zu Recht vielfach bemerkt und kritisiert. Nun ist aber kaum zu bestreiten, dass auch die akute humanitäre Not eine einseitige ist. Man muss den sich mit Palästina solidarisierenden Filmemachern nicht zustimmen. Aber den Mund sollte man ihnen nicht verbieten.

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