Big City Nights

Brian Fallon, Kopf von The Gaslight Anthem, ist in die große Stadt gezogen, um sich überwältigen zu lassen. Eine Begegnung in Brooklyn. Von Daniel Koch · Foto von Danny Clinch

Klischeefalle New York: Jetzt bloß nicht überwältigen lassen. Nicht vom Erstaunen verleiten lassen, das man gerade im 19. Stock eines 1921 erbauten Hochhauses in Manhattan in Spuckweite der Vereinten Nationen logiert und schon beim Badezimmerausblick merkt, dass man es hier mit anderen architektonischen Verhältnismäßigkeiten zu tun hat. Bloß nicht darüber schwadronieren, wie seltsam es sich anfühlt, wenn man später durch diese Straße schlendert, wie es einen aus seinem kleinen Leben zu heben scheint. Auch nicht an der Hausecke lehnen und einfach den Strom der schlendernen, schubsenden, staunenden, bettelnden, lachenden, fegenden Menschen anschauen und dabei den Gaslight-Song „The Diamond Church Street Choir“ im Ohr haben: „Now the lights go out on the avenue/ And the cars pass by in the rain/ University boys and girls fill the bar/ While I’m just waiting for the light to change.“ Bloß das alles nicht.

Oder vielleicht doch? Denn wenn man die Energie und Melancholie nachfühlen möchte, die im neuen Album von The Gaslight Anthem, „American Slang“, stecken, dann ist eben das der beste Weg: Zum ersten Mal in New York sein, die zehn Songs auf Endlosschleife und ein paar Stunden durch Manhattan streifen – „those New York streets where you and I would meet“. Am Ende glaubt man fast, all das tatsächlich mitgelebt zu haben, was Fallon einem zum seelenvollen Punkrock seiner Kollegen Alex Levine (Bass), Benny Horowitz (Schlagzeug) und Alex Rosamilia (Gitarre) ins Ohr singt. Man hat seine Charaktere vor Augen, sei es Goldjunge „Lucky“, der in die Stadt gezogen ist, um zu merken, dass das Leben dort gar nicht so strahlend ist, wie erhofft, oder die „Queen Of Lower Chelsea“, die Fallon mit nur einer Strophe perfekt zeichnet: „Did you grow up a good girl, your daddy’s pride?/ Did you make all the right moves, take all the right drugs, right on time?/ American girls, they want the whole world/ They want every last light in New York City.“ Die Blonde der drei lauten, makellos stöckelnden Mädels, die an der 50th Str. Ecke 5th Aveneu fragt, wo es denn zur „Radio City“ gehe, könnte glatt besagte Queen persönlich gewesen sein.

Mit diesem Abend in frischer Erinnerung, wundert es gar nicht mehr, dass Brian Fallon am nächsten Morgen in Ozzy’s Café in Brooklyn vor einem sitzt und erklärt: „Ich wollte mich von der Stadt überwältigen lassen. Ich brauchte das, um meine Routine zu ändern. Wir haben recht früh beschlossen, das Album in New York aufzunehmen, also dachte ich mir, es wäre keine schlechte Idee, mir hier ein Appartment zu suchen. Eigentlich erst aus logistischen Gründen, aber dann reizte mich der Gedanke. Ich kannte mich hier kaum aus. Hatte keine Freunde hier. Nichts. Es war eine Herausforderung.“

Die Band teilte die Begeisterung und zog ebenfalls näher an die große Stadt heran, die zweieinhalb Zugstunden von New Brunswick entfernt liegt. Gerade am Vorabend des Interviews wurde diese Begeisterung auf besondere Weise zelebriert. Für den Clip zu „American Slang“ lieh man sich „eine Art Partybus“ und fuhr an Orte und Straßen, die der Band in den letzten Wochen wichtig geworden waren. Das tat man derart ausgelassen, dass die Band abzüglich Fallon, der keinen Alkohol trinkt, erst eine Stunde später leicht verkatert interviewt werden kann. Aus diesem Grunde ist es also Fallon, der einen Großteil des Gesprächs schmeißt. Er nickt zustimmend bei der Vermutung, dass mit der Band auch die Stadt in die Songs gezogen ist. „Yeah, das trifft die Sache. Ich schreibe immer über das, was ich sehe. Und nach ‚The ’59 Sound‘ hatte ich das Gefühl, ich hatte jeden Song, den ich über New Jersey schreiben konnte, bereits geschrieben. Ich hätte mich bloß wiederholt.“

Auch die Vorstellung, am Vorabend einen seiner Songcharaktere getroffen zu haben, entlockt ihm ein geschmeicheltes Grinsen. Weil sie gar nicht so abwegig ist: „Alle Charaktere in meinen Songs basieren auf realen Personen. Ich platziere sie sozusagen in der Szenerie, die ich gerade vor Augen habe und füge ihnen Merkmale zu, die typisch für die Stadt oder Gegend sind, in der ein Song spielt. Man könnte ganz hochtrabend sagen, dass hier Kunst und Wahrheit aufeinander treffen.“ Sie sind also alle irgendwo dort draußen – selbst das Mädchen mit den „Monroe hips“, das einem aus dem Song „Film Noir“ vom letzten Album besonders nachhaltig in die Erinnerung bleibt.

Als die Band endlich auftaucht und mit zerkratzten Stimmen vom Videodreh erzählt, bemüht sich Brian Fallon klarzustellen, dass diese nach Dekadenz klingende New-York-Fahrt bloß eine Ausnahme war, um die Band, das Album und das Team zu feiern. „Wir sind sonst nicht so. Wir haben uns hier nicht monatelang in ein teures Studio eingeschlossen und uns das alles bezahlen lassen. Obwohl das Label das vielleicht sogar gemacht hätte. Wenn wir in ein Studio gehen, dann steht alles. Das Experimentieren, das Schreiben der Songs, das alles fand vorher statt. Zu Hause oder bei Freunden. Wo es nicht mehr kostet als das normale Leben.“ Und da war nicht einmal der Reiz, eine Weile wie Gott oder die Stones in Frank- reich zu leben? „Nein. Da hätte mir mein Vater auch ziemlich die Leviten gelesen. Er hat sein Leben lang in der Fabrik gearbeitet und musste das Geld zusammenhalten. ‚So habe ich dich nicht erzogen, Junge‘, hätte er gesagt. Und recht gehabt.“

Auch Alex Rosamilia will das noch mal klargestellt haben: „Selbst wenn es gerade ganz gut läuft und wir inzwischen auch ein Mainstream-Publikum ansprechen, wissen wir, dass wir in der Punkszene verwurzelt sind. Die Solidarität, Freundschaft und Hingabe, die man dort erlebt, wenn man jahrelang durch die Jugendzentren tourt – das hat uns geprägt. Und das bedeutet mehr, als mit Springsteen auf einer Bühne zu stehen.“ Fallon seufzt, aber da der Boss nun schon mal – wie bei praktisch jedem Gaslight-Interview – im Raum steht: „Ach, es ist natürlich überwältigend, mit Mike Ness oder eben Bruce verglichen zu werden. Aber irgendwann will man auch mal als selbstständig wahrgenommen werden. Springsteen brauchte auch drei, vier Alben, um nicht mehr als Dylan-Abklatsch wahrgenommen zu werden. Dass diese Leute einen dann auch noch kennen, ist natürlich noch eine andere Hausnummer. Wobei ich nicht sagen würde, dass ich mit Bruce befreundet bin. Wir telefonieren nicht regelmäßig, und ich hänge auch nicht bei ihm zuhause ab. Das brauch ich auch gar nicht: Mir reicht der Gedanke, dass er unsere Platte hören wird.“

Diese hemdsärmelige Leidenschaft lässt einen an das Gute im musizierenden Menschen glauben – und daran, dass dieses Gute sich prächtig mit einer gesunden Punkrock-Haltung verträgt oder gar aus selbiger entspringt. Das denkt man sich so, wenn man dann am Ende des Tages an der 1st Avenue auf dem Fußmarsch nach Williamsburg in einem Diner sitzt und an seinem Sandwich nagt. Wo es dann schon wieder passiert: Der junge Typ in der Ecke mit der seltsamen Igelfrisur. Wie er die junge Bedienung in ihrem zu engen Top anstiert, fühlt man sich, als wäre man in ihrem alten Song „Here’s Looking At You, Kid“ gelandet: „But I used to wait at the diner, a million nights without her“. Aber das kann nun wirklich nicht sein. Wir sind ja hier nicht in New Jersey.

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