Chinas Musikszene: „Die Gefahr besteht, dass wir jeden Tag wieder schließen müssen“

Während in Europa und den USA die Clubs und Konzerthallen noch geschlossen sind, die Musikszene um ihre Existenz bangt, fand in China das erste Rockkonzert nach dem Corona-Shutdown statt

Genüsslich schält sich Lu Dadong aus seinem Schutzanzug. Es wirkt wie das Abstreifen eines Kokons nach einem bedrückend langen Winter. Erst fällt der Mantel, dann die Brille, schließlich die OP-Maske. Dann steht der Sänger der chinesischen Rockband YuRen mit nacktem Oberkörper auf der Bühne, in der rechten Hand eine 2-Liter-Flasche mit Sprühventil. Schwankend zielt er damit auf die hüpfende Menschentraube zu seinen Füßen. Doch statt Augen reizendem Desinfektionsmittel geht kurz darauf ein Bierregen auf die erste Reihe nieder. Chinas erstes größeres Rockkonzert nach der Aufhebung der Ausgangsperre fühlt sich nicht nur in diesem Moment an wie eine Taufe. Der Nachholbedarf ist groß. Das Mini-Festival in der ostchinesischen 10-Millionenstadt Hangzhou war innerhalb weniger Minuten ausverkauft. Auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Epidemie durften die Menschen auch hier, 750 Kilometer vom Epizentrum Wuhan entfernt, nur alle drei Tage zum Einkaufen aus dem Haus, und das auch nur allein. Nun stehen 300 Zuschauer dicht gedrängt vor der Bühne des „9-Club“, offenbar ohne Angst, sich anzustecken. Doch von Normalität kann noch immer keine Rede sein. Vor der Tür wurde jedem Besucher die Körpertemperatur gemessen, jeder Gast musste außerdem am Eingang seinen „Gesundheitscode“ vorzeigen, ein QR-Quadrat auf dem Smartphone, das den Besitzer basierend auf abgeschöpften Daten und dem Bewegungsprofil der vergangenen Wochen in eine von drei Warnstufen einteilt: „Grün“, „gelb“ oder „rot“.  Ohne grünen Code kommt man in China in diesen Tagen fast nirgendwo mehr rein, oft nicht einmal mehr ins eigene Haus.

Viele geben der Lokalregierung die Schuld

„Die Gefahr besteht, dass wir jeden Tag wieder schließen müssen“, bringt Yifei Shu die unsichere Aufbruchsstimmung auf den Punkt. Der 36-Jährige betreibt selbst einen Club in Hangzhou namens „Loopy“, der sich auf Techno und progressive elektronische Musik spezialisiert hat. Zwei Monate stand der Betrieb für ihn und seine elf Mitarbeiter still. Miete musste er weiterhin bezahlen. “Ein Desaster für einen Underground-Club. Bis zum September mussten wir außerdem alle internationalen Bookings canceln. Dabei waren die Flüge und Gagen oft schon bezahlt”.

„Hätte man sofort nach dem Ausbruch die richtigen Entscheidungen getroffen, wäre es nicht so weit gekommen“

Laut der China Association of Performing Arts wurden seit dem Ausbruch des Coronavirus über 25.000 Live-Shows abgesagt oder verschoben. Auch westliche Bands wie die Pixies oder Stereolab hätten in dieser Zeit in China touren sollen. „März und April ist normalerweise unsere beste Zeit, mit rund 5000 verkauften Tickets pro Monat”, erzählt uns Li Ke am Telefon. Der 33-Jährige managt in der zu diesem Zeitpunkt noch immer abgeschotteten Stadt Wuhan das „VOX“, eines der legendärsten Konzerthäuser Chinas, das unter dem Motto „Voice Of Youth, Voice Of Freedom“ seit 20 Jahren nationalen und internationalen Bands eine Bühne bietet. Wenn er bis Mai nicht wieder aufmachen kann, wird es trotz Crowdfunding und Charity-Compilations eng. „Viele in der Stadt geben der Lokalregierung die Schuld“, sagt Li zerknirscht. „Hätte man sofort nach dem Ausbruch die richtigen Entscheidungen getroffen, wäre es nicht so weit gekommen“.

Krisenhilfe durch den Staat gibt es für ihn nicht. Die chinesischen Behörden stellen Orte wie das „VOX“ oder „Loopy“ nicht auf eine Stufe schützenswerter Kultureinrichtungen wie etwa Pekingopernhäuser, sondern auf eine Ebene mit Bars, wo junge Leute sich betrinken und im schlimmsten Fall subversiv konspirieren. „Man kann bestimmt in vielen Bereichen von China lernen, aber in der Kulturförderung bezweifle ich das“, resümiert Philipp Grefer. Mit dem Label FakeMusicMedia fördert der gebürtige Rheinländer seit 10 Jahren den Subkulturaustausch zwischen Ost und West. Auch seine Pläne wurden durch das Virus zunichte gemacht. So hätte etwa die von ihm gemanagte Band The Hormones diesen März beim SXSW in den USA spielen sollen – ein Meilenstein für die vier Musikerinnen aus Chengdu. „Mit den US-Einlasssperren für China war das natürlich futsch“, sagt Grefer.

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Mit Live-Streaming gegen die Isolation

Doch es war nicht alles schlecht in der Krise. Nicht lange nach Verkündung der ersten Ausgangsperren wandte sich Chinas Musik-Szene umfassend dem Live-Streaming zu. Labels wie „Modern Sky“ aus Peking oder Clubs wie das „All“ in Shanghai veranstalteten „Cloud-Festivals“ vor leeren Rängen, Musiker gaben Wohnzimmer-Konzerte oder DJ-Sets im Schlafanzug. Die musikalische Echtzeit-Übertragung aus der Quarantäne, die man nun auch bei uns beobachten kann, fasste durch die stark ausgebaute digitale Infrastruktur in China noch umfassender Fuß. Schon vorher hatte das Live-Streaming hier eigene Stars hervorgebracht, von der hübschen Bäuerin, die den Ackerbau als idyllische Landflucht inszeniert bis hin zum gender-fluiden Beauty-Blogger, der mit Lippenstift-Tests zum Millionär geworden ist. Chinesische Live-Streaming-Seiten wie „Bilibili“ sind hochgradig interaktiv. Die Zuschauer applaudieren mit Emojis, Kommentare werden oft umgehend beantwortet. Alles ist für alle zur gleichen Zeit sichtbar, was im besten Fall zu echten Gemeinschaftserlebnissen in der Isolation führte. Die Plattformen haben außerdem eine intuitive Bezahl- beziehungsweise „Geschenkfunktion“. Und da jeder Chinese durch die stark fortgeschrittene Digitalisierung des Yuan heute ohnehin alles online bezahlt, ist die Schwelle viel niedriger, spontan etwas zu spenden, besonders wenn man sieht, dass die anderen Zuschauer gerade dasselbe tun. „Ein kleiner Teil der finanziellen Ausfälle konnte so aufgefangen werden“, sagt Grefer. „Ich denke auch, dass sehr viele aus der Szene sich nun noch mehr mit der digitalen Seite des Geschäfts auseinandergesetzt haben.“

Angst vor asymptomatischen Infektionen

Gerade in der ersten Welle der Solidarität erzielten Indie-Musiker, die zuvor wenig vom Live-Streaming profitieren konnten, eine Reichweite, die sie mit ihren Konzerten nie hinbekommen hätten. Trotzdem sind Online-Auftritte natürlich auch in China wesentlich weniger rentabel als echte Tourneen. Den Menschen hinter den Kulissen, den Technikern, Roadies und Promotern brachte das Streaming zudem wenig. Auf bessere Zeiten warten sie alle. “Wir müssen vorsichtig sein. Diese Pandemie könnte länger dauern, als wir denken”, sagt Li Ke mit einer Mischung aus Verständnis und blanker Existenzangst, die auch bei uns langsam um sich greift. Wie fragil die vermeintliche Rückkehr zur Normalität auch in China ist, zeigte sich nur drei Tage nach dem Comeback-Konzert in Hangzhou: Aus Angst vor asymptomatischen Infektionen machten die Behörden die Clubs mit sofortiger Wirkung kurzerhand wieder dicht.

Photographer:watu
Photographer:watu
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