Das absolute Kino

Zu selten zu sehen: die unvergesslichen Gangster-Filme des Jean-Pierre Melville. Eine Hommage.

Man kann einen Film dieses Mannes an einer einzigen Einstellung erkennen. „Le Doulos“ (,,Der Teufel mit der weißen Weste“) beginnt mit einem Mann, der geradeaus geht – unter Brücken hindurch, an Geländern und Straßenlaternen entlang. Der Weg wird länger und länger, darüber liegen die Titel desVorspanns, und mit dem Namen des Regisseurs endet der Gang: Jean-Pierre Melville. Gleich wird Serge Reggiani seinen Gönner, einen Juwelen-Hehler, erschießen. Das Diebesgut wird er nebst der Pistole auf einem Stück Brachland vergraben. Wir sehen die Hände, die in der Erde scharren, das Taschentuch, in das sie den Schmuck wickeln, und wie die Grube wieder mit Erde gefüllt wird. So zärtlich schaut Melville den Gangstern bei ihrer Arbeit zu, als wäre es ein ehrbares Handwerk.

Jean-Pierre Grumbach, 1917 in Paris geboren, hatte schon als Kind wohlsituierter Eltern eine Kamera bekommen; mit sechs Jahren filmte er aus dem Fenster der Wohnung die Nachbarn auf der Straße. Das unbewegte Kamera-Auge und den gnadenlosen Blick hat er immer behalten. Im Zweiten Weltkrieg – er gehörte zu den aus Dünkirchen evakuierten Soldaten – war Grumbach im Widerstand engagiert. Später erzählte er, dass dies die schönste Zeit seines Lebens gewesen sei. Er änderte seinen Namen aus Bewunderung für Herman Melville; später schätzte er Jack London sogar noch mehr. Das amerikanische Kino war seine Heimat, er liebte die klassischen Filme von William Wyler und John Huston.

1947 realisierte er in Paris „Le Silence De La Mer“, das Filmmaterial wurde aus Schnipseln zusammengeklebt. In den 50er-Jahren wurden Melville sein eigener Drehbuchautor und Produzent. Einerseits gilt Melville als Vater der Nouvelle vague, andererseits wurde er von den Jüngeren nicht recht akzeptiert. In „Außer Atem“ (1960) hat er immerhin eine kleine Rolle. Melvilles Arbeitsweise war den Methoden der jungen Wilden entgegengesetzt: Volker Schlön- dorff, der bei „Le Doulos“ (1962) sein Regie-Assistent war, beschreibt wunderbar, wie Melville ihn vormittags in seine Wohnung oberhalb des Ateliers rief, wie er dann die Kamerapositionen und Wege festlegte, bis der Meister um zwölf Uhr das Atelier betrat, sich auf seinen Stuhl setzte und ohne Blick durch den Sucher die präzisen Anweisungen für die Kamera gab. Abends sah er Filme in seinem Vorführraum oder fuhr stundenlang in seinem Auto durch Pariser Straßen, um Schauplätze zu finden, oft mit Schlön- dorff und anderen Cineasten auf der Rückbank. Melville erstellte einen Kanon von 63 amerikanischen Regisseuren des Vorkriegskinos, die er gelten ließ. In seiner düsteren, bedrückenden Wohnung lebte er mit seiner Frau und einer Katze – in „Le Cercle Rouge“ („Vier im roten Kreis“, 1970) gibt es eine hinreißende stumme Szene, in der der einsame Kommissar nach Hause kommt und den Katzen ihre Fressnäpfe hinstellt. Melvilles Filme sind unverstellt artifiziell: In „L’ainé des Ferchaux“ („Die Millionen eines Gehetzten“, 1963) schickt er Charles Vanel und Jean-Paul Belmondo durch ein geträumtes Amerika (das überwiegend in Frank-reich gefilmt wurde) mit Motels und Tankstellen und Diners. Belmondo isst in einer Bar, und wenn die Jukebox spielt, tanzen die Hispanics und Schwarzen in der Spelunke plötzlich wie auf Knopfdruck. Es ist die schönste Hommage an Amerika überhaupt. Die Jukebox stammt aus einem von Melvilles liebsten Filmen, John Hustons „Asphalt Jungle“ (1950), in dem der sympathische alte Bankräuber ein paar Minuten zu lange dem Mädchen zusieht, das zu den Klängen der Musikbox tanzt, für die er ihm die Münzen gegeben hatte. Am Ausgang verhaften ihn die Polizisten.

In den späten 60er- und frühen 70er-Jahren drehte Melville seine Meisterwerke: „Le Samourai“, „L’armée des Ombres“, „Le Cercle Rouge“ und „Un Flic“ („Der Chef“). All diese Filme handeln von Einsamkeit und Verrat, von Freundschaft und Flucht – und alle enden mit dem Tod. In drei der Filme spiegelt Melville seine Weltsicht in dem glatten, regungslosen Gesicht von Alain Delon. In „Un Flic“ treibt Melville seinen Fatalismus auf die Spitze, wenn Delon als besessener Kommissar am Ende den Gangster erschießt, der gerade mit der Frau fliehen will, die sie beide lieben. Catherine Deneuve bleibt reglos an dem Auto stehen, das den Geliebten in die Freiheit bringen sollte, Delon setzt sich hinters Steuer seines Polizeiwagens. Während er fährt, bleibt die Kamera lange auf sein Gesicht gerichtet. Quentin Tarantino zitiert diese Einstellung am Ende von „Jackie Brown“ (wie auch die Anfangs-Sequenz von „Le Doulos“).

„Un Flic“ blieb sein letzter Film. Jean-Pierre Melville starb 1973. Niemand, nicht einmal Hitchcock, erzählte faszinierender vom Kino und vom Leben; nachzulesen in „Kino der Nacht“ (Alexander Verlag): In den Gesprächen mit Rui Nogueira legt Melville seine Methodologie offen. Volker Schlöndorffs Nachwort erzählt uns von dem skurrilen Menschen, mit dem er sich 1963 zerstritten hatte. Später saßen sie bei einer Vorführung in derselben Reihe, und Melville sagte: „Weil es ein Film von John Huston ist, verzeihe ich Ihnen.“

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