Das Fernweh nach der Heimat

Mit dem bukolischen "Das Ouzo-Orakel" schließt Frank Schulz auf melancholische Weise seine "Hagener Trilogie" ab

Ursprünglich hatte Frank Schulz Ende der Achtziger nur eine kleine Geschichte über das erotische Abenteuer – bzw. die erotischen Fantasien – des Briefträgers und Hobbytrinkers Alfred Kolk schreiben wollen. „Es hätte eine 90- bis 100-seitige Novelle werden sollen“, bestätigt Schulz, „und als die sich unter der Hand zu einem 300-seitigen Roman auswuchs, wurde mir klar, dass der eigentliche Stoff nicht die ,Postlerlegende‘ war, sondern das viel prekärere Herkunfts- bzw Heimatthema. Da entschied ich mich, gleich einen Offenbarungseid zu leisten.“ Der bestand darin, zu verkünden, dass „Kolks blonde Bräute“, so hieß das erste Werk, der Beginn einer Trilogie sei. Die hat Schulz nun mit dem gerade erschienen „Das Ouzo-Orakel“ prächtig auf 540 Seiten beendet.

Natürlich wird in Besprechungen wieder von einer „Trinker-Trilogic“ die Rede sein, von Räuschen und Abstürzen, denn der Alkohol spielt auf den insgesamt über 1500 bedruckten Seiten tatsächlich eine beträchtliche Rolle. Aber immer nur als Mittel zum Zweck, als soziales Schmiermittel und Heimatersatz. Der Rausch ist bei Schulz ein Strudel, der direkt ins Unterbewusste, zu den Trieben und heimlichen Sehnsüchten seiner Figuren führt, im Kater setzt dann die Entfremdung ein. Zwischen diesen Aggregatszuständen taumeln seine Protagonisten durstig und entwurzelt – auf der Flucht vor ihrer Herkunft und der Suche nach ihrer Heimat.

Heimat, das ist für Schulz Hagen, ein norddeutsches Dörfchen in der Nähe von Stade, und für seine Protagonisten ist es Beeckdörp, ein Ort, der auf der poetischen Landkarte an derselben Stelle liegt. Auch wenn es Alfred Kolk. Satschesatsche und die anderen längst in die große Metropole, den Moloch Hamburg verschlagen hat, kreisen sie immer noch um ihr altes Kaff. Vor allem der sensibelste von ihnen, „Kolk“-Erzähler Bodo „Mufti“ Morten, kehrt in seinen Gedanken immer wieder nach Beeckdörp zurück, geht an dem Riss zwischen plebejischem und urbanem Leben – zwischen Körper und Geist, also – in „Morbus Fonticuli“, dem zweiten Teil der Trilogie, fast zugrunde und landet am Ende in der Klapse.

Heimat, das ist für Frank Schulz auch immer die Sprache. Während Bodo in „Kolks blonde Bräute“ seinen Freunden ganz genau aufs Maul schaut u nd seine Schilderungen an die Jugendtage zu den absoluten Höhepunkten des Romans gehören, verliert er sich in seinen Tagebüchern, die den Hauptteil von „Morbus Fonticuli“ bilden, in einem stotternden Idiolekt aus Zitaten, Kalauern und Wahnsinn. Es muss eine Mordsanstrengung gewesen sein, von diesem dementen Palaver zur aufgeräumten Sprache von „Das Ouzo-Orakel“ zu gelangen. „Sie glauben gar nicht, wie recht Sie haben!“, stöhnt Schulz. „Den ,Ouzo‘-Ton zu finden, hat erhebliche Startprobleme bereitet. Und her musste ein neuer Ton, weil ich erstens keine Lust hatte, mich mit dem ,Morbus‘-Ton selbst zu plagieren. Zweitens fand ich, dass sich Bodo nach dem Aufenthalt in der Klapse ruhig weiterentwickeln sollte – vom ramenternden Choleriker zum abgeklärteren Melancholiker.“

Abgeklärt ist Bodo freilich nur zu Beginn des Romans. Er lebt zurückgezogen mit festen Lese-, Lern-, Meditations- und Schreibzeiten in seiner „Villa Arkadia“ an einer einsamen Bucht nahe dem griechischen Örtchen Kouphala. Auch sprachlich richtet er sich sein neues Zuhause muckelig ein: durch poetische Darstellungen des Dorfes und seiner Bewohner (vor allem der Wirte). Besonders aber durch das Erlernen ihrer Sprachen: des Griechischen und der eigenwilligen Diktion deutsch-sprechender Griechen, die Schulz bei seinen regelmäßigen Griechenlandurlauben genau studiert hat.

Alkohol und Frauen – nur noch pejorativ als „Linksknöpfer“ bezeichnet – hat Bodo aus seinem Leben gestrichen. Ein ausgeklügeltes Alarmsystem soll ihn retten, wenn er doch einmal in Versuchung gerät. Kurz: Seine Askese ist so von Hysterie geprägt, dass man schon ahnt, dass das nicht gut gehen kann.

Einmal im Jahr holt ihn seine Vergangenheit ein. In der Ferienzeit, wenn die alten Freunde in das kleine griechische Paradies einfallen, um am Strand und in den Kneipen ihren Urlaub zu verbringen. Die beiden Bakchen Karin und Manu – Schwester und Frau von Alfred Kolk – sind in diesem Jahr die ersten. Diese Besuche aus der Heimat meistert Bodo mit Routine. Den Tag verbringt er mit ihnen am Strand, und wenn sie am Abend in die Kneipen und Bars weiterziehen, setzt er mit seinem Boot über den Acheron zu seiner Klause über. Dann erscheint Monika Freymuth, geborene Meurin, seine Jugend-, nein Kinderliebe, die in Midlife-und Ehekrise ihrem geflohenen Gatten nachgereist und in Kouphala gestrandet ist. Dieses unerwartete Aufeinandertreffen führt Bodos Gedanken zurück in die Heimat, genauer gesagt: aufs Beeckdörper Schützenfest, wo der kleine Bodo als Schützenprinz seiner Prinzessin, der schönen Monika, am Schießstand eine Plastikrose schießt und sie diese mit den Worten „Die ist ja gar nicht echt“ ablehnt und verschwindet.

Natürlich verliebt sich Bodo über seinen Erinnerungen erneut in Monika – bzw. in das Bild, das er sich von dieser unschuldigen kindlichen Liebe malt. Das kann ich nur zu gut verstehen, denn das erste Verliebtsein hat mir noch nie jemand auf so anrührende und wehmütige Weise beschrieben wie Bodo Morten. Da bleiben amouröse Verstrickungen nicht aus, er verfällt Schwermut und Alkohol, während die stocksteife Monika sich mit schönen jungen Griechen aus der Krise knöpfelt. Eine Figur, wie direkt aus den tiefsten Tiefen der Schnatzenliteratur. „Eine gewisse Beschäftigung, z. B. mit den ersten 30 Seiten von Hera Linds ,Superweib‘ war nötig, um ein Gefühl für das Kitsch-Motiv im ,Ouzo-Orakel‘ zu entwickeln“, so Schulz.

Es sind schließlich uneigentliche Bilder wie die Lichtspiegelung am Ufer, die eben nur fast aussieht wie das Mühlrad im Wappen von Beeckdörp, und das Mobiltelefon eines alten Fischers, die Bodo Morton zu der Einsicht bringen, dass er die ganze Zeit nur einer Schimäre nachgelaufen ist, dass Heimat ein Land in der Vergangenheit ist, so unerreichbar wie das Arkadien aus Vergils Hirtengedichten, diese Landschaft, in der die Zeit still steht, das Leben gegen die Geschichte revoltiert. Als schließlich auch noch der plötzliche Tod des Tavernenbesitzers Spyros sein griechisches Idyll zerstört, kehrt Bodo nach einem erneuten Sanatoriums-Aufenthalt nach Hamburg zurück. Was ihm bleibt, ist die Sehnsucht.

Die bleibt auch uns nach diesem bukolischen Abschluß der Trilogie. Werden wir Bodo, unseren liebenswerten, mit sich selbst und der Welt hadernden Schelm je wiedersehen? Oder anders gefragt: Wird Schulz sich nun literarisch von seiner Heimat entfernen? „Möglich, dass mir so etwas nie gelingen wird. Positiv gewendet: Ich habe das Gefühl, noch Stoff genug zu haben, um mich nicht weiter davon entfernen zu müssen.“ So ist das mit der Heimat: Sie lässt einen nicht los, auch wenn man niemals zu ihr zurückkehren kann.

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