Das Flüstern

Mit nur 45 Jahren starb Vic Chesnutt Weihnachten in Georgia. Erinnerung an einen Songschreiber, der sich seine eigene Welt schuf.

Sein Leben war vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. So zumindest empfand es der 18jährige Vic Chesnutt, nachdem er 1983 – betrunken – mit dem Auto von der Straße abgekommen war und fortan im Rollstuhl sitzen musste. Ein paar Jahre später ging es aber doch erst richtig los.

Chesnutt zog Mitte der 80er Jahre nach Athens, Georgia, schrieb ein paar Folk-Songs und spielte in kleinen Pinten, war aber vor allem ein großer Trinker. An guten Abenden sollen seine Auftritte damals sensationell gewesen sein, an schlechten brach er volltrunken ab, nicht ohne vorher das Publikum anzupöbeln. „Ich bemitleidete mich hemmungslos selbst, bis ich eine Möglichkeit fand, etwas Sinnvolles zu tun“, so erinnerte er sich an die dunkle Zeit. Eines Nachts war im „40 Watt Club“ ein berühmter Kollege zu Gast, der ihn ins nächste Studio brachte: R.E.M.-Sänger Michael Stipe. Chesnutts Debüt „Little“ wurde an wenigen Tagen im Herbst 1988 aufgenommen. Es schmerzt noch heute, diese Lieder zu hören – die Kindheitserinnerung „Speed Racer“, in der sich Chesnutt erstmals als leidenschaftlicher Atheist outet, und all die anderen kleinen Geschichten vom Leben in den Südstaaten, von schwitzenden Omas, die auf Verandas sitzen, und dummen Jungs, denen Träumen wichtiger ist als Sex. In Chesnutts gegreinten, geflüsterten, geknurrten Songs entstand ein eigener surrealer Kosmos, bevölkert von komischen Charakteren. Er deutete lieber an als auszuschmücken; er brauchte nie viele Worte, um viel zu sagen. Seine Gitarre schlug er mal ungestüm, mal unfassbar langsam an – je nachdem, was die verkrüppelte Hand gerade hergibt“, erklärte er lakonisch.

Wäre die Welt nicht genauso kümmerlich, wie Vic Chesnutt sie beschrieb, hätte er mit den folgenden Alben eine große Karriere gemacht. „West Of Rome“, „Is The Actor Happy?“, „About To Choke“ es gibt so viele herzzerreißende Stücke auf diesen Werken, dass man sie an miesen Tagen kaum anhören kann. Schon vor seinem Autounfall sei er oft depressiv gewesen, gab Chesnutt irgendwann zu Protokoll übertriebene Rücksicht wollte er nie. Er schimpfte gern über jammernde Behindertenverbände, die überall ein Klo installieren wollen“.

Als ich Vic Chesnutt zum ersten Mal traf, hatte er sein Selbstmitleid längst durch Sarkasmus ersetzt. Damals ging das Interview später als geplant los, weil eine Stewardess Chesnutt nach der Landung gebeten hatte zu warten, bis alle Passagiere ausgestiegen sind. Dann vergaß sie ihn. Nach einer halben Stunde allein im Flugzeug rief Chesnutt schließlich doch um Hilfe. „Einen Freiflug hätten sie dafür schon springen lassen können“, befand er grinsend.

Er konnte wunderbare Geschichten von Athens erzählen, dieser kleinen Stadt, die ihm im Laufe der 90er Jahre ein wenig fremd wurde. Durch viele Tourneen und das voranschreitende Alter verlor er den Bezug zur College- und Künstler-Szene, obwohl es nie an Musikern mangelte, die mit ihm spielen wollten. Leider schlichen häufig auch durchgedrehte R.E.M.-Fans durch seinen Garten – wohl in der Hoffnung, Stipe könnte vorbeikommen. „Da möchte man nur noch weglaufen“, konstatierte Chesnutt, „aber das fällt mir ja leider etwas schwer.“ Er nahm weiterhin tolle Alben auf, gleich drei im vergangenen Jahr. Die Lieder klangen oft spröde oder zerschossen, doch es blitzte auch immer wieder sein berüchtigter schwarzer Humor auf zwischen all der Schwermut.

„Throughout this entire ugly outing/ I’ve been mumbling the convex of what I should be shouting/ But I’ll soon be silent/ You’ll soon hear nothing/ ‚Cause the world, it is a sponge“, hatte er einst gesungen. Am 25. Dezember 2009 starb Vic Chesnutt an einer Überdosis Beruhigungsmittel, die er wegen seiner angegriffenen Muskeln schon lange nahm, zu Hause in Athens. Der Verlust traf nicht nur Michael Stipe schwer: „Wir haben einen der ganz Großen verloren.“

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